Das gläserne Tor
etwa von dieser sagenhaften Oase? So etwas schien es hier weit und breit nicht zu geben, auch nicht bei der nächsten Felsenkette, denn die hatten er und sein Trupp ja wohl auf dem Herweg durchquert. Grazia schüttelte den Kopf, als er ihr den schlaffen Beutel vor die Nase hielt.
»Will ich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Brauch … nicht.«
»Du brauchst das ganz dringend.«
Mit zusammengepressten Lippen schüttelte sie den Kopf. Kurzerhand hielt er sie am Kinn ruhig und drückte den Daumen zwischen ihre Zähne.
»Wehe, du beißt jetzt zu. Du hast einen blauen Hintern, wenn du das tust.«
Sie war sich nicht sicher, das richtig verstanden zu haben, dennoch hielt sie still. Die Öffnung des Lederbalgs schob sich in ihren Mund, und dann blieb ihr nichts anderes übrig, als zu trinken. Es war wohl an der Zeit, Anschar zu erklären, warum sie so wenig Wasser mitgenommen hatte. Aber ihr fehlte die Kraft, jetzt davon anzufangen. Sie hatte für nichts mehr Kraft. Ergeben schloss sie die Augen. Seine Arme fingen sie auf.
In der Nacht erwachte sie an eine schrundige Felswand gelehnt, eingehüllt in ihren Umhang. Es war kalt. Langsam kehrte die Erinnerung zurück … Sie hatte Anschar gefunden, und er hatte sie getragen. Bis hierher zu jener zweiten Felsenkette.
Siedend heiß wurde ihr bewusst, wie sehr er sich mit ihr abgeplagt hatte, dabei war er doch selbst geschwächt.
»Anschar?«, flüsterte sie und zuckte zusammen, als sie ihn neben sich tief und entspannt atmen hörte. Er lag auf der Seite, seine Hand umschloss den Griff des Schwertes. Das Licht der beiden Monde war so hell, dass sie seine geschlossenen Lider erkennen konnte. Seine Zöpfe hatten sich wie Schlingen um seinen Hals gelegt. Und seine Arme – selbst jetzt ließ sich erkennen, dass sie rot waren, verbrannt von der Sonne. Sie hätte daran denken sollen, ihm einen Umhang mitzubringen. Langsam stand sie auf und ging zu ihm. Noch sehr viel langsamer bückte sie sich und spreizte dicht über seiner erhitzten Haut die Finger. Sie wollte ihn mit Wasser kühlen. Aber würde er es nicht merken? Ein Tropfen fiel von ihrem Zeigefinger. Ein zweiter, dann ein Rinnsal. Als er grunzend den Kopf drehte, zog sie die Hand zurück. Leise entfernte sie sich.
Der Weg, ein kleine Schlucht zwischen Dutzenden zuckerhutförmiger Felsblöcke, die aus dem Sand ragten, war leicht zu erkennen. Sie suchte sich eine Felsspalte, verrichtete ihre Notdurft und ging weiter, bis sie einen Felsblock fand, auf dem sich bequem sitzen ließ. Ein Tier huschte von ihr fort, einer bepelzten Eidechse ähnlich. Sie schüttelte sich. Hoffentlich gab es hier keine Skorpione oder Ähnliches. Im Dorf war sie von dergleichen verschont geblieben, aber das konnte hier inmitten der Wildnis anders sein.
Zwischen den Füßen fand sie eine Muschel. Länglich war sie, mit natürlichen Mustern versehen und kalkweiß. Grazia blies den Sand weg und hielt sie ins Mondlicht. Sofort dachte sie an den Fluch der Götter. Anschar hatte ihr davon erzählt. Die Argaden glaubten, wenn man eine Muschel fände, so sei dies eine stille Mahnung der Götter, sich an den Fluch zu erinnern. Seit Hunderten von Jahren waren Argad und das
ferne Land Temenon, eine weitere Hochebene tief im Südosten, verfeindet. Vor Hunderten von Jahren nämlich war die gesamte Wüste ein Meer gewesen. Argad hatte Schiffe gegen Temenon ausgesandt, um es zu erobern, was nie gelungen war. Der Krieg hatte angedauert, Jahre, Jahrzehnte …
Ein wenig hatte sie sein Bericht an die Sage um Troja erinnert; auch hier war die Rede von mehr als tausend Schiffen gewesen, die das Meer überquert hatten, um die Stadt eines fremden Volkes zu belagern. Zur Eroberung von Temenon war es jedoch nicht gekommen, denn die Götter hatten die Prophezeiung ausgesprochen, dass sie die Völker voneinander trennen würden, wie eine Mutter zwei raufende Bälger, wenn es den Menschen nicht gelänge, dem Krieg ein Ende zu machen. Argads Könige aber hatten nicht auf sie gehört, unerbittlich hatten sie ihre Schiffe ausgesandt. Irgendwann war der Meeresspiegel gesunken, doch auch das hatte sie nicht zur Besinnung gebracht. Erst als das Meer verschwunden war und Trockenheit sich auf Argad zu legen begann, hatten sie begriffen, was der Fluch bedeutete. Der Krieg war nicht beendet, doch jetzt konnte niemand mehr die Wegstrecke zurücklegen, um zu tun, was die Götter gefordert hatten: den Frieden suchen. So tat seitdem der Fluch des Wassermangels unaufhaltsam sein Werk.
Grazia
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