Das gläserne Tor
sie einen Schal und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Besonders glücklich siehst du nicht aus, Herrin«, sagte Henon.
»Nein, ich finde das viel zu freizügig. So kann ich doch unmöglich auf die Straße gehen.«
»Das kannst du schon. Hier stört man sich nicht an … nun, was immer du auch meinst. Wo willst du denn hin, wenn ich fragen darf?«
»In den Tempel. Würdest du mich begleiten?« Hilflos
zupfte sie an dem Schal herum, doch wann immer sie eine Stelle bedeckte, wurde anderswo eine entblößt. »Aber erst, wenn ich hierfür eine Lösung gefunden habe.«
»Oh, das findet sich. Bitte warte einen Augenblick.« Er eilte ins Schlafgemach und kramte dort in einer Truhe. Mit einem säuberlich zusammengefalteten Stück Stoff kehrte er zurück. »Das hatte eine Frau hier vergessen, als sie Anschar besuchte. Es ist schon ein paar Jahre her. Vermisst hat sie diesen Mantel nie, jedenfalls kam niemand, ihn zu holen.«
Er schüttelte ihn auseinander. Es war ein Traum aus seidigem Blau.
»Ist das nicht die Farbe der Trauer?«, fragte sie.
»Wie kommst du darauf? Oh, verzeih, was frage ich so unhöflich! Mit der Kleidung pflegt man Trauer bei uns nicht auszudrücken.«
Sie ließ sich in den Mantel helfen. Angenehm kühl lag der dünne Stoff auf der Haut. Die Ärmel fand sie äußerst ungewöhnlich: Weit geschnitten, reichten sie fast bis zu den Knien, doch auf der Höhe der Oberarme steckten sie in festen Hülsen aus dickem, mit gelben Mustern besticktem Stoff. Der sich darüber bauschende Stoff wurde hinter den Armen von goldenen Ringen gebändigt.
»O Henon, das ist ja ein wundervolles Stück. Ist er nicht zu kostbar, um damit in der Stadt herumzulaufen?«
Er schüttelte entschieden den Kopf, sichtlich erfreut, dass er ihr helfen konnte.
Für Grazia war der Mantel tatsächlich Liebe auf den ersten Blick. Zu allem Überfluss besaß er eine Kapuze, unter der sie ihre Haare verbergen konnte.
»Trägt man das so? Ja?«, fragte sie eifrig, und er strahlte.
»Natürlich, es dient zum Schutz vor der Sonne. Ich kann dir aber auch einen Sonnenschirm holen.«
»Wirklich? Das wäre schön, bei uns gehen wir im Sommer
auch oft mit Sonnenschirm im Park spazieren. Aber das muss jetzt nicht sein.« Zufrieden zupfte sie an den Ärmeln, deren Säume äußerst kunstvoll mit netzartig aneinander verknoteten Fransen verziert waren. »Wer war denn diese Frau, und wie konnte sie diesen wundervollen Mantel einfach vergessen?«
»Ich weiß nicht, wer sie war, ich kann mich nur noch daran erinnern, dass sie sein Bett ziemlich überhastet verlassen hat. Er erwähnte danach, sie habe wohl Ärger mit ihrem Mann befürchtet.«
»Sein Bett?«, wiederholte Grazia. »Ich dachte …«
»Ja?«, fragte er, da sie ins Stocken geriet.
Sie wusste nicht so recht, wie sie über ein so heikles Thema reden sollte. »Er hat wenig über seine Verhältnisse gesprochen, aber dass er unvermählt ist, war mir schon klar. Diese Frau, sie war seine – äh – Geliebte?«
»Nein.« Henon zuckte mit den Achseln. »Sie kam einfach so.«
»Einfach so ?«
Er schien nicht zu begreifen, was daran unverständlich war. »Ja, sie war nur eine Nacht lang hier. Wie viele andere auch.«
Mit offenem Mund starrte sie ihn an. »Viele? Welche?«
»Huren und Frauen, die wissen wollen, wie es ist, von einem der Zehn beschlafen zu werden. Herrin, ist dir nicht gut?«
Sie hatte die Hand vor den Mund gepresst, da sie nicht imstande war, ihn zu schließen. »Kommt das oft vor?«
»So oft, wie es einen jungen Mann eben treibt. Was soll er denn sonst tun? Eine eigene Frau wird er erst haben können, wenn er zu alt ist, um noch den Ansprüchen der Kriegerkaste zu genügen. In seinem Fall darf das dann auch nur eine Sklavin sein, also eine Wüstenfrau. Was er davon hält, kannst du dir sicher denken.«
»O ja, das kann ich.«
»Bis dahin wird ja nicht einmal geduldet, dass er sich eine Gefährtin sucht. Die Zehn dürfen sich allein an den Meya gebunden fühlen.« Er schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. »Mein armer Junge! Es ist anzunehmen, dass er in Heria sehr viel seltener Gelegenheit bekommt, eine Frau fürs Nachtlager zu finden. Warum nur, ihr Götter, musste er in die Hände des Herrn von Hersched geraten?«
Allmählich gewann Grazia ihre Fassung zurück, denn wenn sie darüber nachdachte, waren die Gepflogenheiten so überraschend nicht. War es bei den Gladiatoren im alten Rom nicht ähnlich gewesen? Auch da, meinte sie gelesen zu haben, hatten sich
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