Das gläserne Tor
Hersched langsam. »Schiffe? Das ist ein Begriff aus den Zeiten des Krieges gegen Temenon. Man hat damit Menschen übers Wasser transportiert – so schwer vorstellbar das für uns heute auch ist. Wie sollte man mit so etwas kämpfen können? Hat sie das erklärt?«
Anschar erinnerte sich, dass sie es einmal versucht hatte, denn er hatte ihr dieselbe Frage gestellt. Doch das war zu Anfang gewesen, als sie der Sprache kaum mächtig gewesen war. Er hatte es nicht verstanden. Geschosse, die von einem Schiff zum anderen gingen, oder etwas in der Art. Später war das nie wieder zur Sprache gekommen.
»Nein, Herr.«
Ein zweites Mal schlenderte Mallayur um das Becken herum, und dieses Mal beobachtete Anschar ihn genau. Wartete auf den Wink an die Schergen, ganz so, wie ein Sklave die Bewegungen seines Auspeitschers verfolgte. Seine Muskeln spannten sich an, als Mallayur aus seinem Blickwinkel verschwand, und lockerten sich um eine Winzigkeit, als er auf der anderen Seite wieder auftauchte. Ihm gegenüber blieb Mallayur stehen, legte einen Arm auf den Beckenrand und tat so, als versinke er in Gedanken.
Ich hasse dich für dieses Getue, dachte Anschar.
»Das klingt alles interessant.« Mallayurs Finger drehten Kreise auf dem Wasser. »Aber nur für Geschichtensammler. Diese Fähigkeit – hat die in ihrem Volk möglicherweise jeder?«
»Ich weiß nichts darüber.«
»Anschar!«, brüllte Mallayur über das Wasser hinweg. »Du kannst mir nicht weismachen, du seist Monate mit ihr zusammen gewesen und hättest nichts bemerkt!«
»Es ist aber so, und du kannst nichts dagegen machen.«
»Kann ich nicht?« Verächtliches Lachen war die Antwort. »Du bist aber vergesslich, wenn du nicht mehr weißt, warum du da liegst.« Mit wenigen raschen Schritten war Mallayur wieder bei ihm und raunte ihm zu: »Du willst sie schützen, das verstehe ich ja. Sie ist nicht schön mit ihrer gesprenkelten Haut, aber – meine Güte, allein in der Wüste mit einer Frau, was soll ein gestandener Mann da machen? Und jetzt fühlst du dich ihr verpflichtet. Damit dein Beschützerinstinkt geweckt ist, hat sie bestimmt dafür gesorgt, dass du sie beschläfst.«
Anschar hob den Kopf und spuckte Mallayur ins Gesicht. Einen Herzschlag später fand er sich unter Wasser wieder. Es überraschte ihn selbst, dass er das getan hatte. Er, ein Sklave! Es gab Herren, die ihre Sklaven für ein solches Vergehen töteten; und schützte ihn nicht sein Status als einer der Zehn, würde es ihm zweifellos ebenso ergehen.
Es sah jedoch so aus, als wolle Mallayur das vergessen.
Anschar bekam Zeit, um nachzudenken. Mehr Zeit als je zuvor. Und es gab Schlimmeres, als im Angesicht des Todes über Grazia nachzudenken. Natürlich hatte er sich ausgemalt, zu erkunden, was sie so peinlich unter ihrem Gewand zu verstecken suchte. Sehr oft sogar. Und hätte sie ihm auch nur ein einziges, winziges Zeichen gegeben, dass sie bereit sei, es ihm zu zeigen, hätte er es in die Tat umgesetzt. Aber
sie hatte ja immer nur das Gegenteil getan, mit ihren schier nervtötenden Bemühungen, die Glieder bedeckt zu halten.
In seine Lunge stachen Nadeln. Alles in ihm schrie nach Luft. Wie lange war er jetzt im Wasser? Lange genug, um den Weg zu Schelgiurs Wirtschaft zurücklegen zu können, so schien es ihm. Er zerrte an den Fesseln und bäumte sich auf, doch die rettende Wasseroberfläche war zu weit entfernt. Dann wurde es doch noch hell, und er sah durch einen trüben Schleier das Licht der Lampe auf dem aufgewühlten Wasser tanzen. Sein Körper wand sich in krampfartigen Zuckungen, als besäße er einen eigenen Willen.
»Du gibst ein erbärmliches Bild ab, weißt du das?«, hörte er Mallayur wie aus weiter Ferne. Wenn es so war, dann war dies seine geringste Sorge. Er krümmte sich und erbrach sich ins Becken. Es war schlimmer als die Peitsche.
»Ist es genug jetzt? Redest du?«
Anschar schüttelte den Kopf.
»Rede! Willst du lieber ersaufen, Mann?«
Noch ein, zwei dieser Tauchgänge, und er wäre imstande, sich irgendetwas zusammenzureimen, das Grazia vielleicht mehr schadete als die Wahrheit, die er gar nicht kannte. Er musste an etwas anderes denken. Irgendetwas ganz anderes.
Er spuckte aus und versuchte einen Ton von sich zu geben. Mallayurs Atem strich über seine nasse Schulter.
»Ich höre.«
Rasselnd sog Anschar die kostbare Luft ein, hustete und stieß hervor, was ihm gerade in den Sinn kam. »Er … er fühlte sein Ende …’s war H-h-herbsteszeit, wieder …
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