Das gläserne Tor
zu viel des Guten und höchst gefährlich. Die soll dir natürlich bleiben, es soll doch jeder sehen, dass
du einer der Zehn bist – vielmehr warst. Aber die vier Krallen des Schamindar, die müssen weg.«
»Was … nein! Ich gehöre dir auch so. Ich …« Anschar würgte, als jemand seinen Kopf in den Nacken bog und mit einem harten Gegenstand seine Zähne spreizte. Eine bittere Flüssigkeit rann in seinen Mund. Er wurde zum Schlucken gezwungen, was wohl auch besser war, denn er merkte, dass es sich um etwas handelte, das ihn ein wenig betäuben sollte.
»Anschar, du sollst nicht betteln. Das tut kein Sklave, und einer der Zehn schon gar nicht.«
Schnüre wanden sich um die Finger seiner rechten Hand, um sie zu strecken. Um das Handgelenk wurde ein Grasband gelegt. Wer immer es hielt, zog daran, sodass sein Arm ausgestreckt auf dem Tisch lag, mit der Handfläche nach oben. Anschar spannte die Muskeln an, konnte ihn aber nicht zurückziehen.
»Haltet ihn fest.«
Der Mann, der ihm die Flüssigkeit eingeflößt hatte, umschlang ihn von hinten. Schwer lastete sein Gewicht auf Anschars Schultern. Irgendwo über seiner Hand waberte die drohende Hitze. Er wollte einwenden, dass das verfluchte Mittel noch gar nicht wirkte, aber er wusste, das würde sie jetzt nicht interessieren. Er schielte nach der Stange. Ihre Spitze glühte in hellem Rot. Egnasch hielt sie von sich gestreckt, den Schaft sorgfältig mit dicken Lappen umwickelt, und stellte sich breitbeinig auf.
»Dauert nicht lange«, sagte er launig. »Ich mache es auch ordentlich. Versprochen!«
In seinen Augen glitzerte die Vorfreude.
Grazia merkte kaum, wie sie durch die Gänge des Palastes von Argadye hastete, vor sich einen Sklaven, den sie angewiesen hatte, sie schnellstmöglich zum Meya zu bringen. Von den
Vorgängen in den schrecklichen, kalten Felsengewölben war sie noch ganz betäubt. Wie sie Heria entkommen war, wusste sie nicht mehr so genau. Anschars Anweisung im Ohr, war sie einfach ins Freie gelaufen. Der Wächter, der sie zu Mallayur hatten bringen sollen, war ihr nachgesprintet, aber sie hatte ihn angeschrien, dass sie unter dem Schutz des Meya stand. Dann war plötzlich die Brücke vor ihr gewesen, und sie hatte die Beine in die Hand genommen und einen verunsicherten Wächter zurückgelassen, der vielleicht schon in diesem Augenblick für seine Nachlässigkeit die Strafe empfing.
Die Treppenschächte hatte sie von Anfang an als mühselig empfunden, jetzt erschienen sie ihr endlos. Ihr zitterten die Knie, und sie rang nach Atem, als sie endlich vor einer geschlossenen Tür stand, vor der ein Soldat Wache hielt.
»Der Meya will um diese Zeit nicht gestört werden«, sagte er zu dem Sklaven, der ebenfalls keuchte.
»Es ist wichtig«, warf Grazia ein.
Er schüttelte den Kopf. »Es wird doch noch Zeit …«
»Nein!«, rief sie. »Es muss jetzt sein. Jetzt. Sofort!«
Sie kam sich fast hysterisch vor. Aber ihr Auftreten zeigte Wirkung, der Wächter öffnete ihr. Ohne noch auf ihn oder den Sklaven zu achten, rauschte sie hinein. Es war nur eine Art Vorzimmer. Ein schimmernder Vorhang trennte den hinteren Bereich ab. Im Schein des rückwärtigen Fensters sah sie zwei Schatten, und eine hell klingende Stimme erfüllte glasklar die Luft. Es hörte sich an, als trage sie eine Geschichte vor.
Grazia prallte gegen einen muskulösen Baum. Fast wäre sie auf den Hintern gefallen, hätte der riesenhafte Mann nicht ihr Handgelenk gepackt. Sie sah an seinem Arm dieselbe Tätowierung, wie sie Anschar trug.
Die Stimme erstarb, stattdessen war ein ärgerliches Grunzen zu hören. »Was soll die Unterbrechung?«, schnaufte Madyur-Meya.
»Bitte«, rief Grazia. Mehr brachte sie nicht heraus, denn der Leibwächter umklammerte ihre Hand so fest, dass sie schmerzte.
»Grazia?« Einer der Schatten löste sich, warf sich etwas über und näherte sich dem Vorhang. Ein Spalt öffnete sich. Es war Fidya, die herausschaute. Fast hätte Grazia sie nicht erkannt, denn sie trug das Haar offen. Lang und schwarz wallte es ihr fast bis zur Taille. Ihre Augen blitzten freudig. »Du bist es tatsächlich! Aber was ist denn mit dir? Du wirkst ja ganz aufgelöst.«
»Ich muss den Meya sprechen.«
Fidya verschwand wieder hinter dem Vorhang und wiederholte für ihn die Worte. Grazia sah, wie er nickte.
»Lass sie los, Darur. Sie soll herkommen.«
Erleichtert riss sich Grazia los und schlüpfte durch den Vorhang. In ihrer Aufgewühltheit vergaß sie, sich zu verbeugen,
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