Das gläserne Tor
stattdessen machte sie einen Knicks und wankte auf einen Korbsessel zu, in den sie sich unziemlich fallen ließ. Fidyas besorgtes Gesicht neigte sich über sie. Das Kanarienvögelchen umschlag ihre Finger und rieb sie.
»Gib ihr etwas zu trinken«, sagte Madyur.
Fast hätte Grazia aufgelacht. Zu trinken – ihr! Sie streckte den Rücken und blickte ihn über Fidya hinweg an, die vor ihr in die Hocke gegangen war und immer noch ihre Hand hielt. »Ich brauche nichts, danke. Bitte entschuldige mein Benehmen.«
»Gern. Sofern du mir sagst, warum du meine knapp bemessene Mußestunde störst.« Er saß dicht bei ihr auf einem ausladenden Bett, das mit feinsten Decken und Kissen übersät war. Und mit Papierrollen. Eine davon hielt er in der Hand und klopfte damit ungeduldig auf seinen nackten Schenkel.
Sie kratzte an ihren Fingerspitzen. Die Sprache beherrschte sie inzwischen so gut, dass sie kaum noch nach Worten zu
suchen brauchte, aber jetzt spürte sie eine seltsame Leere im Kopf, die es zu überwinden galt. »Anschar wird von Mallayur gefoltert!«, schoss es aus ihr heraus. »Ich weiß es, ich habe es gesehen.«
Für einen Moment presste er die Lider zusammen und rieb sich müde aufstöhnend durchs Haar. »Hat Anschar sich irgendwie danebenbenommen?«
»Mallayur wollte ihn über mich ausfragen.«
»So. Was gibt es denn über dich zu wissen? Und vor allem – was zu verschweigen?«
Unter seinem bohrenden Blick glaubte sie, ganz klein zu werden. Es gab kein Zurück, sie musste es ihm sagen. Vielmehr zeigen. Wie Anschar es von ihr wollte. »Ich hätte doch gern etwas zu trinken.«
Dem Meya missfiel die scheinbare Verzögerung, aber er nickte Fidya zu, die von irgendwoher einen kupfernen Becher brachte. Darin war Bier. Grazia verzog die Lippen, denn darauf hatte sie keinen Appetit, aber das war jetzt unwichtig. Sie trank es und streckte den Becher vor.
»Der ist leer«, erklärte sie.
Madyur mahlte mit den Kiefern. Das Papier zwischen seinen Fingern knirschte. Sollte sie jetzt versagen, würde sie wohl hochkantig hinausfliegen. Sie betrachtete den Becher, atmete durch und stellte sich vor, wie er sich füllte. Es gelang ihr mühelos. Erneut hielt sie ihm den Becher hin. Der Meya nahm ihn entgegen. Zu begreifen schien er nichts. Schief lächelte sie ihn an.
»Der war eben leer, du hast es gesehen.«
»Ja«, sagte er gedehnt. »Aber das, äh … Wollen wir nicht lieber beim Thema bleiben?«
»Willst du denn gar nicht wissen, wie ich ihn gefüllt habe?«
Er glotzte wie ein Kind, das man vor eine unlösbare mathematische Aufgabe gestellt hatte.
»Ich kann Wasser erschaffen. Aus dem Nichts. Und Mallayur scheint sich brennend dafür zu interessieren.«
»Du kannst – bitte? Könntest du das wiederholen?« Er kippte den Inhalt des Bechers einfach auf den Boden und streckte ihn ihr hin. Grazia machte über dem Becher eine Geste. Das war unnötig, aber vielleicht ließ er sich so leichter überzeugen.
»Ihr Götter.« Madyur starrte in den wieder bis zum Rand gefüllten Becher. »Ihr Götter!« Er schnupperte an dem Wasser und nippte vorsichtig daran. Dann nickte er anerkennend und nahm einen weiteren, diesmal tiefen Schluck. »Das ist das wohlschmeckendste Wasser, das ich je getrunken habe! Wo nimmst du es her?« Er hielt Fidya den Becher hin, die trank und genüsslich aufseufzte.
»Ich weiß nicht, wo es herkommt.« Grazia begriff, dass er noch nicht überzeugt war. Kurzerhand streckte sie eine Hand aus und ließ das Wasser herausfließen, wie sie es bei Anschar getan hatte. Fidya kreischte auf und machte einen Satz nach hinten. Der Meya hingegen sprang vor, packte Grazias Arm und schüttelte ihn.
»Au!«
»Halt still!« Er knetete ihre nasse Haut, aus der es jetzt nur noch tröpfelte. »Kommt das aus deinem Körper? Da ist keine Öffnung, nichts.«
»Nein. Es scheint sich an meiner Hand in der Luft zu manifestieren. Glaube ich jedenfalls. Es ist wie ein kalter Luftzug, der meine Hand streift, und dann fließt es. Aber ich kann es steuern.«
»Du bist eine Nihaye! Kein Wunder, dass Mallayur hinter dir her ist.«
»Ich bin keine …«
»Warum zeigst du mir das erst jetzt?« Er ließ sie los und sackte zurück auf die Bettkante. Raschelnd fielen einige der
Papierrollen herunter und landeten in der Wasserlache. Weder er noch Fidya achteten darauf.
»Findest du denn nicht, dass dazu sehr viel Vertrauen gehört?« Grazia rieb sich die Hand. Wie oft würde man sie heute noch an den Handgelenken packen, bis
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