Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
welche zu Kastalien und seinen Gesetzen im Widerspruch standen, welche nicht in der hiesigen Ordnung und Rechnung aufgingen und von ihr nicht zu bändigen und zu sublimieren waren. Und natürlich kannte er das Vorhandensein dieser Welt auch in seinem eigenen Herzen. Auch er hatte Triebe, Phantasien und Gelüste, welche den Gesetzen widersprachen, unter denen er stand, Triebe, deren Zähmung nur allmählich gelang und harte Mühe kostete. Diese Triebe also konnten in manchen Schülern so stark werden, daß sie über alles Mahnen und Strafen hinweg sich durchsetzten und die ihnen Verfallenen aus der Elitewelt Kastaliens in jene andere Welt zurückführten, welche nicht von Zucht und Geistespflege, sondern eben von Naturtrieben beherrscht wurde und welche dem um kastalische Tugend Bemühten bald wie eine böse Unterwelt, bald wie ein verführerischer Spiel- und Tummelplatz erscheinen mußte. Viele junge Gewissen seit Generationen haben den Begriff der Sünde in dieser kastalischen Form erfahren. Und viele Jahre später, als Erwachsener und Liebhaber der Ge
schichte, sollte er ja des genauern erkennen, daß Geschichte nicht ohne den Stoff und die Dynamik dieser Sündenwelt des Egoismus und des Trieblebens entstehen kann und daß auch so sublime Gebilde wie das des Ordens aus dieser trüben Flut geboren und irgendeinmal von ihr wieder verschlungen werden. Das Problem Kastaliens also war es, das allen starken Bewegungen, Strebungen und Erschütterungen in Knechts Leben zugrunde lag, und niemals ist dies für ihn nur ein denkerisches Problem gewesen, sondern eines, das ihn wie kein anderes im Innersten anging und für das er sich mitverantwortlich wußte. Er gehörte zu jenen Naturen, welche daran krank werden, hinsiechen und sterben können, daß sie die von ihnen geliebte und geglaubte Idee, das von ihnen geliebte Vaterland und Gemeinwesen erkranken und Not leiden sehen.
Wir verfolgen den Faden weiter und stoßen auf die erste Waldzeller Zeit Knechts, seine letzten Schülerjahre und sein bedeutungsvolles Zusammentreffen mit dem Gastschüler Designori, das wir ja an seiner Stelle eingehend geschildert haben. Diese Begegnung zwischen dem glühenden Anhänger des kastalischen Ideals und dem Weltkind Plinio war nicht nur ein heftiges und lange nachwirkendes, sie war auch ein tief wichtiges und gleichnishaftes Erlebnis für den Schüler Knecht. Denn es wurde ihm damals jene so bedeutende wie anstrengende Rolle aufgezwungen,
welche, scheinbar vom Zufall ihm zugeworfen, seinem ganzen Wesen so sehr entsprach, daß man beinahe sagen möchte, sein späteres Leben sei nichts als ein Wiederaufnehmen dieser Rolle und ein immer vollkommeneres Hineinwachsen in sie gewesen, in die Rolle nämlich des Verteidigers und Repräsentanten Kastaliens, wie er sie dann etwa zehn Jahre später gegen den Pater Jakobus aufs neue zu spielen hatte und als Glasperlenspielmeister bis zu Ende gespielt hat, eines Verteidigers und Repräsentanten des Ordens und seiner Gesetze, der aber immerzu innig bereit und bemüht war, vom Gegenspieler zu lernen und nicht die Abkapselung und starre Isolierung Kastaliens, sondern sein lebendiges Zusammenspiel und seine Auseinandersetzung mit der Außenwelt zu fördern. Was im geistigen und rednerischen Wettkampf mit Designori zum Teil noch Spiel gewesen war, wurde später, dem so gewichtigen Gegner und Freund Jakobus gegenüber, tiefer Ernst, und gegen beide Gegenspieler hat er sich bewährt, ist an ihnen gewachsen, hat von ihnen gelernt, hat im Kampf und Austausch nicht weniger gegeben als genommen und hat beide Male den Gegner zwar nicht besiegt, was ja von Anfang an nicht das Kampfziel war, aber ihn zur ehrenvollen Anerkennung seiner Person wie des von ihm vertretenen Prinzips und Ideals zu zwingen vermocht. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem gelehrten Benediktiner nicht unmittelbar zu jenem
praktischen Ergebnis, der Errichtung einer halboffiziellen Vertretung Kastaliens beim Heiligen Stuhl geführt hätte, wäre sie von höherem Wert gewesen, als die Mehrzahl der Kastalier ahnte.
Sowohl durch die wettkämpferische Freundschaft mit Plinio Designori wie durch jene mit dem weisen alten Pater hatte Knecht, der sonst mit der außerkastalischen Welt in keinerlei nähere Beziehung gekommen war, eine Kenntnis oder eher Ahnung jener Welt erworben, wie sie in Kastalien gewiß wenige besaßen. Mit Ausnahme des Mariafelser Aufenthaltes, der ihm ja ein Bekanntwerden mit dem eigentlichen Weltleben auch nicht bringen
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