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Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Titel: Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung, welche im Verfallszeitalter vor der Gründung unseres Ordens sehr beliebt war und zu der wir von vorneherein nicht das mindeste Zutrauen haben: der sogenann
ten Geschichtsphilosophie, deren geistvollste Blüte und zugleich gefährlichste Wirkung wir bei Hegel finden, die aber in dem auf ihn folgenden Jahrhundert bis zu der widerlichsten Geschichtsverfälschung und Demoralisierung des Wahrheitssinnes führte. Die Vorliebe für die sogenannte Geschichtsphilosophie gehört für uns zu den Hauptkennzeichen jener Epoche geistigen Tiefstandes und politischer Machtkämpfe größten Umfangs, die wir zuweilen das »kriegerische Jahrhundert«, meistens aber die »feuilletonistische Epoche« nennen. Auf den Trümmern jener Epoche, aus der Bekämpfung und Überwindung ihres Geistes – oder Ungeistes – entstand unsre jetzige Kultur, entstanden der Orden und Kastalien. Nun hängt es mit unsrem geistigen Hochmut zusammen, daß wir der Weltgeschichte, namentlich der neueren, beinahe so gegenüberstehen, wie etwa der Asket und Eremit des älteren Christentums dem Welttheater gegenüberstand. Die Geschichte scheint uns ein Tummelplatz der Triebe und der Moden, der Begehrlichkeit, der Habgier und Machtgier, der Mordlust, der Gewalt, der Zerstörungen und Kriege, der ehrgeizigen Minister, der gekauften Generäle, der zusammengeschossenen Städte, und wir vergessen allzu leicht, daß dies nur einer ihrer vielen Aspekte ist. Und wir vergessen vor allem, daß wir selber ein Stück Geschichte sind, etwas Gewordenes, und etwas, das zum Absterben verurteilt ist, wenn es die Fä
higkeit zu weiterem Werden und Sichwandeln verliert. Wir sind selbst Geschichte und sind an der Weltgeschichte und unserer Stellung in ihr mitverantwortlich. Am Bewußtsein dieser Verantwortung fehlt es bei uns sehr.
    Werfen wir einen Blick auf unsre eigene Geschichte, auf die Zeiten der Entstehung der heutigen pädagogischen Provinzen, in unserem Lande wie in so manchem anderen, auf die Entstehung der verschiedenen Orden und Hierarchien, deren eine unser Orden ist, so sehen wir alsbald, daß unsre Hierarchie und Heimat, unser liebes Kastalien, keineswegs von Leuten gegründet wurde, welche sich zur Weltgeschichte so resigniert und so hochmütig verhielten wie wir. Unsre Vorgänger und Stifter begannen ihr Werk am Ende des kriegerischen Zeitalters in einer zerstörten Welt. Wir sind gewohnt, die Weltzustände jener Zeit, welche etwa mit dem ersten sogenannten Weltkriege begann, einseitig daraus zu erklären, daß eben damals der Geist nichts gegolten habe und für die gewaltigen Machthaber nur ein gelegentlich benütztes, untergeordnetes Kampfmittel gewesen sei, worin wir eine Folge der »feuilletonistischen« Korruption sehen. Nun, es ist leicht, die Ungeistigkeit und Brutalität festzustellen, mit welcher jene Machtkämpfe geführt wurden. Wenn ich sie ungeistig nenne, so tue ich es nicht, weil ich ihre gewaltigen Leistungen an Intelligenz und Methodik nicht sähe, son
dern weil wir gewohnt sind und darauf halten, den Geist in erster Linie als Willen zur Wahrheit zu betrachten, und was an Geist in jenen Kämpfen verbraucht wurde, scheint allerdings mit dem Willen zur Wahrheit nichts gemein zu haben. Es war das Unglück jener Zeit, daß einer aus der ungeheuer raschen Vermehrung der Menschenzahl entstandenen Unruhe und Dynamik keine einigermaßen feste moralische Ordnung entgegenstand; was an Resten einer solchen übrig war, wurde durch die aktuellen Schlagworte verdrängt, und wir stoßen im Verlauf jener Kämpfe auf wunderliche und schreckliche Tatsachen. Ganz ähnlich wie bei der Kirchenspaltung durch Luther, vier Jahrhunderte früher, war plötzlich die ganze Welt von ungeheurer Unruhe erfüllt, überall bildeten sich Kampffronten, überall war plötzlich bittre Todfeindschaft zwischen jung und alt, zwischen Vaterland und Menschheit, zwischen Rot und Weiß, und wir Heutigen vermögen die Macht und innere Dynamik jenes »Rot« und »Weiß«, vermögen die eigentlichen Inhalte und Bedeutungen all jener Devisen und Kampfrufe überhaupt nicht mehr zu rekonstruieren, geschweige denn zu begreifen und mitzufühlen; ähnlich wie in Luthers Zeit sehen wir in ganz Europa, ja der halben Erde Gläubige und Ketzer, Junge und Alte, Verfechter des Gestrigen und Verfechter des Morgigen begeistert oder verzweifelt aufeinander loshauen, oft liefen die Fronten quer durch
die Landkarten, Völker und Familien, und wir dürfen nicht

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