Das Glasperlenspiel
vergewaltigt zu werden wie der Einzelmensch, wie die Sprache, wie die Künste, wie alles Organische und kunstvoll Hochgezüchtete, dann ist es unsre einzige Pflicht, zu widerstreben und die Wahrheit, das heißt das Streben nach Wahrheit, als unsern obersten Glaubenssatz zu retten. Der Gelehrte, der als Redner, als Autor, als Lehrer wissentlich das Falsche sagt, wissentlich Lügen und Fälschungen unterstützt, handelt nicht nur gegen organische Grundgesetze, er tut außerdem, jedem aktuellen Anschein zum Trotz, seinem Volke keinen Nutzen, sondern schweren Schaden, er verdirbt ihm Luft und Erde, Speise und Trank, er vergiftet das Denken und das Recht und hilft allem Bösen und Feindlichen, das dem Volke Vernichtung droht.
Der Kastalier soll also nicht Politiker werden; er soll zwar im Notfall seine Person, niemals aber die Treue gegen den Geist opfern. Geist ist wohltätig und edel nur im Gehorsam ge gen die Wahrheit; sobald er sie verrät, sobald er die Ehrfurcht ablegt, käuflich und beliebig biegsam wird, ist er das Teuflische in Potenz, ist sehr viel schlimmer als die animalische, triebhafte Bestialität, welche immer noch etwas von der Unschuld der Natur behält.
Ich überlasse es jedem von Ihnen, verehrte Kollegen, sich seine Gedanken darüber zu machen, worin die Pflichten des Ordens bestehen, wenn das Land und der Orden selbst gefährdet sind. Es wird da verschiedene Auffassungen geben. Auch ich habe die meinige, und im vielen Erwägen aller hier angeregten Fragen bin ich für meine Person zu einer klaren Vorstellung dessen gekommen, was für mich Pflicht und erstrebenswert sei.
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Dies nun führt mich zu einem persönlichen Gesuch an die verehrliche Behörde, mit welchem mein Memorandum
schließen soll.
Von den Magistern, aus welchen unsre Behörde besteht, stehe ich als Magister Ludi wohl meinem Amte nach der Außenwelt am fernsten. Der Mathematiker, der Philologe, der Physiker, der Pädagoge und alle anderen Magis ter arbeiten auf Gebieten, welche sie mit der profanen Welt gemein haben; auch in den nichtkastalischen, den gewöhnlichen Schulen unsres und jedes Landes bilden Mathematik und Sprachlehre die Grundlagen des Unterrichts, auch an den weltlichen Hochschulen wird Astronomie, Physik, auch von völlig Ungelehrten wird Musik getrieben; alle diese Disziplinen sind uralt, viel älter als unser Orden, sie waren lange vor ihm da und werden ihn überleben.
Einzig das Glasperlenspiel ist unsre eigene Erfindung, unsre Spezialität, unser Liebling, unser Spielzeug, es ist der letzte differenzierteste Ausdruck unsrer speziell kastalischen Art von Geistigkeit. Es ist zugleich das kostbarste und das unnützeste, das geliebteste und zugleich das zerbrechlichste Kleinod in unserem Schatz.
Es ist das erste, das zugrunde gehen wird, wenn der
Fortbestand von Kastalien in Frage gestellt wird; nicht nur, weil es in sich das gebrechlichste unserer Besitztümer ist, sondern auch schon, weil es für die Laien ohne Zweifel das
entbehrlichste Stück von Kastalien ist. Wenn es sich darum handeln wird, jede entbehrliche Ausgabe dem Lande zu ersparen, so wird man die Eliteschulen einschränken, die Fonds zur Erhaltung und Vermehrung der Bibliotheken und
Sammlungen kürzen und schließlich streichen, unsre Mahlzeiten reduzieren, unsre Kleidung nicht mehr erneuern, aber man wird sämtliche Hauptdisziplinen unsrer Universitas Litterarum fortbestehen lassen, nur nicht das Glasperlenspiel. Mathematik braucht man auch, um neue Schußwaffen zu erfinden, aber daß aus der Schließung des Vicus Lusorum und der Abschaffung
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unsres Spieles dem Land und Volke der geringste Schaden erwachsen könne, wird niemand glauben, am wenigsten die Militärs. Das Glasperlenspiel ist der extremste und gefährdetste Teil unsres Gebäudes. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß es gerade der Magister Ludi, der Vorsteher unsrer
weltfremdesten Disziplin, ist, der die kommenden Erdbeben als erster vorausfühlt oder dies Gefühl doch als erster vor der Behörde ausspricht.
Also ich betrachte für den Fall politischer und namentlich kriegerischer Umwälzungen das Glasperlenspiel als verloren. Es wird rasch verkommen, auch wenn noch so viele Einzelne ihm die Anhänglichkeit bewahren, und es wird nicht
wiederhergestellt werden. Die Atmosphäre, die einer neuen Kriegsepoche folgen wird, wird es nicht dulden.
Es wird ebenso verschwinden wie gewisse höchstkultivierte Gepflogenheiten in der Geschichte der Musik, etwa die Chöre von
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