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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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unten Herren seien, die nach ihm fragten, vermochte er nicht länger besonnen zu bleiben, stand auf und ging eiligst hinunter.
    »Mein lieber Herr Marquis«, sagte Rougon und stellte ihm Mitglieder des Magistratsausschusses vor, »wir möchten Sie um eine Gefälligkeit bitten. Könnten Sie uns in den Garten des Hauses führen lassen?«
    »Gewiß«, entgegnete der Marquis erstaunt. »Ich werde Sie selber dorthin geleiten.«
    Unterwegs ließ er sich den Fall erzählen. Der Garten endigte in einer Terrasse, die die Ebene beherrschte; an dieser Stelle war ein breites Stück der Festungswälle eingestürzt, und eine unbegrenzte Aussicht tat sich auf. Rougon hatte begriffen, daß dies ein ausgezeichneter Beobachtungsposten war. Die Nationalgardisten waren an der Tür zurückgeblieben. Die Mitglieder des Ausschusses hatten sich im Gespräch auf die Brüstung der Terrasse gelehnt. Das seltsame Schauspiel, das sich jetzt vor ihnen entrollte, ließ sie verstummen. In der Ferne, im Tal der Viorne, diesem ungeheuren Einschnitt, der im Westen die Gebirgskette der Garrigues von den SeilleBergen trennt, ergoß sich der Mondschein wie ein Strom bleichen Lichts. Baumgruppen, düstere Felsen bildeten hier und dort kleine Inseln und Landzungen, die aus dem leuchtenden Meer auftauchten. Und je nach den Windungen der Viorne sah man kleine oder größere Abschnitte des Flusses, die mit dem blanken Schimmer von Rüstungen aus dem feinen Silberstaub herausglänzten, der vom Himmel herabfiel. Es war ein Ozean, eine Welt, die von der Nacht, der Kälte, der geheimen Angst ins Unendliche erweitert wurden. Zunächst hörten und sahen die Herren nichts. Den Himmel erfüllte ein Zittern von Licht und fernen Stimmen, das sie betäubte und blendete. Sogar Granoux, von Natur wenig poetisch veranlagt, murmelte, von dem erhabenen Frieden der Winternacht ergriffen:
    »Welch schöne Nacht, meine Herren!«
    »Sicher hat Roudier geträumt«, meinte Rougon etwas geringschätzig.
    Doch der Marquis spitzte seine feinen Ohren.
    »Halt!« rief er mit seiner klaren Stimme. »Ich höre Sturm läuten!«
    Alle beugten sich mit angehaltenem Atem über die Brüstung; und leicht, mit kristallener Reinheit stiegen die fernen Töne einer Glocke aus der Ebene empor. Die Herren konnten es nicht leugnen: das war Sturmgeläut. Rougon behauptete, er erkenne die Glocke von Le Béage, einem Dorf, das eine gute Meile von Plassans entfernt lag. Er sagte das, um seine Kollegen zu beruhigen.
    »Hören Sie! Hören Sie!« unterbrach der Marquis. »Das jetzt ist die Glocke von SaintMaur.« Und er zeigte auf einen anderen Punkt des Horizonts.
    Tatsächlich wimmerte jetzt eine zweite Glocke in die klare Nacht hinaus. Bald wurden es zehn Glocken, zwanzig Glocken, deren verzweifeltes Läuten ihre Ohren vernahmen, nachdem die sich an das starke Beben der Dunkelheit gewöhnt hatten. Düstere Rufe stiegen von allen Seiten her auf, schwach und wie das Stöhnen Sterbender. Bald schluchzte die ganze Ebene. Die Herren machten sich nicht mehr über Roudier lustig.
    Der Marquis, der eine boshafte Freude daran fand, ihnen Angst einzujagen, war gern bereit, ihnen die Ursache des Geläutes zu erklären.
    »Das sind«, erläuterte er, »die Nachbardörfer, die sich zusammentun, um bei Tagesanbruch Plassans anzugreifen.«
    Granoux riß weit die Augen auf.
    »Haben Sie da unten nichts bemerkt?« fragte er plötzlich.
    Niemand hatte hingesehen. Die Herren hatten die Augen geschlossen, um besser zu hören.
    »Ah, sehen Sie, dort!« fing er nach einer Weile wieder an. »Jenseits der Viorne, dort bei der schwarzen Masse!«
    »Ja, ich sehe«, antwortete Rougon verzweifelt. »Ein Feuer wird angezündet.«
    Fast gleichzeitig wurde ein zweites Feuer dem ersten gegenüber entfacht, dann ein drittes, ein viertes. Das ganze Tal entlang tauchten in beinahe gleichmäßigen Abständen, wie die Laternen einer riesigen Stadt, rote Flecken auf. Das Mondlicht dämpfte ihren Schein, so daß sie wie Blutlachen wirkten. Diese traurige Illumination vollendete die Bestürzung des Magistratsausschusses.
    »Weiß Gott«, flüsterte der Marquis mit seinem schärfsten Hohnlächeln, »diese Mordbrenner geben sich gegenseitig Zeichen.« Und er zählte wohlgefällig die Feuer, um, wie er sagte, zu erfahren, mit wieviel Mann ungefähr »die tapfere Nationalgarde von Plassans« es zu tun haben würde.
    Rougon wollte Zweifel erheben, wollte sagen, die Dörfer griffen zu den Waffen, um zum Heer der Aufständischen zu stoßen, nicht

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