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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Augenblick sehr stark fühlte, ging persönlich in die Rue Canquoin, um die Gendarmen zu bitten, zu Hause zu bleiben und sich in nichts einzumischen. Er ließ übrigens die Zugänge zum Gendarmeriegebäude öffnen, deren Schlüssel die Aufständischen mitgenommen hatten. Aber er wollte allein triumphieren und mußte verhindern, daß ihm die Gendarmen einen Teil seines Ruhms streitig machen könnten. Sollte er sie unbedingt benötigen, so würde er sie rufen. Und er erklärte ihnen, daß ihre Anwesenheit vielleicht reizen und damit die Lage nur verschlechtern würde. Der Unteroffizier beglückwünschte ihn sehr zu seiner Vorsicht. Als Rougon erfuhr, daß sich ein Verwundeter in der Unterkunft befand, wollte er sich beliebt machen und verlangte, ihn zu sehen. Er fand Rengade im Bett liegen mit einer Binde über dem Auge und seinem dicken Schnurrbart, dessen Enden bis unter den Verband reichten. Mit einer schönen Rede über Pflichterfüllung tröstete er den Einäugigen, der fluchend und schnaubend dalag, verzweifelt über seine Verwundung, die ihn zwingen würde, aus dem Dienst zu scheiden. Rougon versprach, ihm einen Arzt zu schicken.
    »Besten Dank, mein Herr«, antwortete Rengade, »aber sehen Sie, was mir mehr Erleichterung verschaffen würde als alle Arzneien, das wäre, dem Schuft, der mir das Auge ausgestoßen hat, den Hals umzudrehen. Oh, ich werde ihn schon wiedererkennen; es ist ein kleiner, magerer, blasser Kerl, ganz jung …«
    Pierre fiel das Blut an Silvères Händen ein. Er wich etwas zurück, als befürchte er, Rengade würde ihm an die Gurgel springen und ausrufen: »Dein Neffe war es, der mir das Auge ausgestoßen hat. Warte nur, du sollst statt seiner dafür büßen!« Und während er im stillen seine nichtswürdige Familie verwünschte, erklärte er feierlich, daß der Schuldige mit der ganzen Strenge des Gesetzes bestraft werden solle, wenn man ihn finde.
    »Nein, nein, die Mühe kann man sich sparen«, antwortete der Einäugige, »ich werde ihm schon den Hals umdrehen.«
    Rougon beeilte sich, ins Bürgermeisteramt zurückzukehren. Der Nachmittag wurde dazu benutzt, verschiedene Vorkehrungen zu treffen. Der gegen ein Uhr öffentlich angeschlagene Aufruf machte einen ausgezeichneten Eindruck. Er schloß mit einem Appell an die Besonnenheit der Bevölkerung und gab die feste Zusicherung, die Ordnung werde nicht mehr gestört werden. Bis zur Abenddämmerung boten die Straßen auch tatsächlich das Bild allgemeiner Erleichterung und vollen Vertrauens. Die Gruppen auf den Bürgersteigen sagten beim Lesen des Aufrufs: »Es ist alles vorüber, wir werden bald die Truppen zur Verfolgung der Aufständischen durchziehen sehen.«
    Man glaubte so fest an das baldige Eintreffen der Soldaten, daß die Müßiggänger vom Cours Sauvaire auf die Straße nach Nizza hinauswanderten, um der Musik entgegenzugehen. Bei Anbruch der Nacht kamen sie enttäuscht zurück, weil sie nichts gesehen hatten. Da beschlich eine geheime Unruhe die Stadt.
    Der provisorische Ausschuß auf dem Bürgermeisteramt hatte so viel leeres Stroh gedroschen, daß sich seine Mitglieder, denen der Magen knurrte und die sich durch ihr eigenes Geschwätz erschreckt hatten, abermals von Angst gepackt fühlten. Rougon entließ sie zum Essen und bestellte sie zu neun Uhr abends zurück. Er wollte gerade selber das Amtszimmer verlassen, als Macquart erwachte und heftig an die Tür seines Gefängnisses klopfte. Er erklärte, er habe Hunger, fragte dann, wie spät es sei, und brummte, nachdem ihm sein Bruder gesagt hatte, es sei fünf Uhr, mit teuflischer Bosheit und lebhaftes Erstaunen heuchelnd, daß ihm die Aufständischen versprochen hätten, bereits früher zurückzukommen, und daß sie sich reichlich Zeit ließen, ihn zu befreien. Rougon befahl, ihm zu essen zu bringen, und ging dann hinunter, gereizt durch die Beharrlichkeit, mit der Macquart von der Rückkehr der Aufständischen sprach.
    Auf der Straße wurde es ihm unbehaglich. Die Stadt schien ihm verändert. Sie sah sonderbar aus: Schatten huschten schnell die Bürgersteige entlang, es wurde leer und still, und auf die wie ausgestorbenen Häuser schien zugleich mit der Dämmerung langsam und hartnäckig wie ein feiner Regen graue Angst herabzurieseln. Die geschwätzige Vertrauensseligkeit des Tages endigte unseligerweise in einem grundlosen Entsetzen, im Grauen vor der hereinbrechenden Nacht; die Einwohner waren so müde und so erfüllt von ihrem Triumph, daß ihnen zu nichts anderem mehr

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