Das Glück der Familie Rougon - 1
aber, um die Stadt anzugreifen.
Doch die Herren zeigten durch ihr bestürztes Schweigen, daß ihre Meinung feststand und sie auf jeden Trost verzichteten.
»Da haben wir˜s, ich höre die Marseillaise«, sagte Granoux mit erloschener Stimme.
Auch das war richtig. Eine Rotte marschierte wohl die Viorne entlang und zog in diesem Augenblick unmittelbar unterhalb der Stadt vorbei. Der Schrei »Aux armes, citoyens! formez vos bataillons!«60 drang stoßweise mehr oder weniger deutlich herüber. Es war eine furchtbare Nacht. Die Herren verbrachten sie, auf die Terrassenbrüstung gestützt, erstarrt von der schrecklichen Kälte, unfähig, sich von dem Schauspiel loszureißen, das diese Ebene bot, die unter dem Sturmgeläut und der Marseillaise erbebte und von den Feuerzeichen flammte. Den Männern flimmerte es so sehr vor den Augen von diesem leuchtenden Meer, das mit blutroten Flammen gesprenkelt war, so sehr gellte es in ihren Ohren von dem verworrenen Lärm, daß ihre Sinne sie trogen und sie schauerliche Dinge sahen und hörten. Um nichts auf der Welt wären sie von der Stelle gewichen; hätten sie den Rücken gewandt, so würden sie geglaubt haben, eine ganze Armee sei ihnen auf den Fersen. Wie manche Feiglinge wollten sie die Gefahr kommen sehen, zweifellos um im richtigen Augenblick die Flucht zu ergreifen. Daher erfaßte sie denn auch die furchtbare Angst, als gegen Morgen der Mond verschwand und sie nur noch einen schwarzen Abgrund vor sich hatten. Sie wähnten sich von unsichtbaren Feinden umgeben, die im Dunkel heranschlichen, um ihnen an die Kehle zu springen. Beim geringsten Geräusch meinten sie, es seien Männer unterhalb der Terrasse, die untereinander beratschlagten, bevor sie sie erstürmten. Und nichts, nichts als Finsternis um sie her, in die sie verzweifelt die Blicke bohrten. Der Marquis tat, als wolle er sie trösten, und sagte mit seiner spöttischen Stimme: »Beunruhigen Sie sich doch nicht! Die werden das Morgengrauen abwarten.«
Rougon fluchte. Er fühlte, wie ihn die Angst von neuem packte. Granoux˜ Haare wurden völlig weiß. Endlich brach mit tödlicher Langsamkeit der Tag an. Das gab noch einen recht bösen Augenblick. Die Herren waren darauf gefaßt, beim ersten Morgenstrahl eine ganze Armee vor der Stadt in Schlachtordnung aufgestellt zu sehen. Und gerade an diesem Tage wollte der Morgen nicht kommen; er zögerte am Rand des Horizonts. Mit gereckten Hälsen und gespanntem Blick versuchten sie, die verschwommene Helligkeit zu durchdringen. Und in der unbestimmten Dämmerung sahen sie unförmige Umrisse; die Ebene verwandelte sich in einen Blutsee, die Felsen in Leichen, die auf seiner Oberfläche schwammen, die Baumgruppen in noch drohend dastehende Bataillone. Als dann die wachsende Helligkeit die Gespenster ausgelöscht hatte, zog der Tag herauf, so bleich, so trübe, so schwermütig, daß sich sogar dem Marquis das Herz zusammenkrampfte. Man sah keine Aufständischen, die Straßen waren frei, aber das völlig graue Tal bot einen verlassenen und düsteren Anblick wie eine Mördergrube. Die Feuer waren erloschen; die Glocken läuteten noch. Gegen acht Uhr bemerkte Rougon eine einzige Rotte von wenigen Männern, die sich längs der Viorne entfernten.
Die Herren waren halbtot vor Kälte und Müdigkeit. Da sie keinerlei unmittelbare Gefahr sahen, beschlossen sie, sich einige Stunden Ruhe zu gönnen. Ein Nationalgardist wurde als Wache auf der Terrasse zurückgelassen, mit dem Befehl, Roudier schleunigst zu benachrichtigen, falls man in der Ferne irgendeinen Trupp wahrnehmen sollte. Granoux und Rougon waren so zerschlagen von den Aufregungen der Nacht, daß sie sich gegenseitig stützen mußten, um ihre einander benachbarten Wohnungen zu erreichen.
Félicité brachte ihren Mann mit aller Sorgfalt zu Bett. Sie nannte ihn ihr »armes Häschen« und sagte wiederholt, er dürfe sich nicht solchen düsteren Vorstellungen hingeben, es werde alles gut ablaufen. Er aber schüttelte den Kopf – er hegte ernste Befürchtungen. Sie ließ ihn bis elf Uhr schlafen. Dann, nachdem er gegessen hatte, schob sie ihn sanft hinaus und gab ihm zu verstehen, daß er bis zum Ende durchhalten müsse. Auf der Bürgermeisterei traf Rougon nur vier Mitglieder des Ausschusses an. Die übrigen ließen sich entschuldigen; sie waren wirklich krank. Seit dem Morgen fuhr ein noch heftigerer, noch rauherer Hauch des Entsetzens durch die Stadt. Die Herren hatten sich der Schilderung jener denkwürdigen Nacht auf der
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