Das Glück der Familie Rougon - 1
Terrasse der Valqueyras nicht enthalten können. Ihre Dienstmädchen hatten sich beeilt, die Neuigkeit überall zu verbreiten, und sie dabei mit dramatischen Einzelheiten ausgeschmückt. Zu dieser Stunde war es bereits eine der Geschichte angehörende Tatsache, daß man von den Höhen von Plassans aus in der Ebene den Tanz von Kannibalen beobachtet hatte, die ihre Gefangenen auffraßen, Hexen, die sich im Reigen um ihre Kochkessel drehten, darin Kinder gesotten wurden, und endlose Züge von Banditen, deren Waffen im Mondschein schimmerten. Auch sprach man von Glocken, die ganz, von selbst in der trostlosen Luft Sturm geläutet hätten, und man versicherte, daß die Aufständischen Feuer an die Wälder der Umgegend gelegt hätten und daß das ganze Land in Flammen stehe.
Es war Dienstag, der Markttag in Plassans. Roudier hatte geglaubt, die Stadttore weit auftun lassen zu müssen, um die wenigen Bäuerinnen hereinzulassen, die Gemüse, Butter und Eier brachten. Sobald der Magistratsausschuß, der nunmehr nur noch fünf Mitglieder zählte, den Präsidenten inbegriffen, versammelt war, erklärte er das für eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit. Wenn auch die auf der Terrasse der Valqueyras zurückgelassene Wache nichts gesehen hatte, war Anlaß gegeben, die Stadt geschlossen zu halten. Daraufhin bestimmte Rougon, der öffentliche Ausrufer solle, von einem Trommler begleitet, durch die Straßen gehen, den Belagerungszustand in der Stadt verkünden und den Einwohnern bekanntgeben, daß, wer auch immer aus der Stadt gehe, nicht mehr dorthin zurückkehren könne. Auf Anordnung der Obrigkeit wurden die Tore am hellichten Tage geschlossen. Durch diese zur Beruhigung der Bevölkerung getroffene Maßnahme erreichte der Schrecken seinen Höhepunkt. Und nichts war merkwürdiger als diese Stadt, die sich mitten im neunzehnten Jahrhundert in der hellen Mittagssonne verrammelte und verriegelte.
Als Plassans den abgenutzten Gürtel seiner Wälle um sich herum festgezogen und geschlossen, als es die Riegel vorgeschoben hatte wie eine belagerte Festung, der ein Sturmangriff bevorsteht, strich eine tödliche Angst über die düsteren Häuser hin. Jede Stunde vermeinte man, von der Mitte der Stadt aus Gewehrgeknatter in den Vorstädten zu hören. Man wußte nichts mehr, befand sich gleichsam tief in einem Keller, einem zugemauerten Loch, in angstvoller Erwartung der Befreiung oder des Gnadenstoßes. Seit zwei Tagen hatten die Rotten der Aufständischen, die im Lande umherzogen, alle Verbindungen unterbrochen. Plassans, in der Sackgasse, in der man es erbaut hatte, in die Enge getrieben, fand sich vom übrigen Frankreich abgeschnitten. Es hatte das Gefühl, mitten im Land der Empörung zu sein; ringsumher läuteten die Sturmglocken, grollte die Marseillaise mit dem Tosen eines über seine Ufer getretenen Stroms. Die verlassene und angstzitternde Stadt war wie eine dem Sieger zugesprochene Beute, und in jedem Augenblick schwankten die Spaziergänger auf dem Cours Sauvaire zwischen Schrecken und Hoffnung, je nachdem sie vor der Grand˜Porte die Kittel der Aufständischen oder die Uniformen der Soldaten zu sehen wähnten. Noch nie hatte eine Unterpräfekturstadt im hemmenden Ring ihrer verfallenden Mauern schmerzvollere Todesängste ausgestanden.
Gegen zwei Uhr verbreitete sich das Gerücht, der Staatsstreich sei mißglückt, der PrinzPräsident sitze im Turm von Vincennes61, Paris befinde sich in den Händen der radikalsten Volksherrschaft, Marseille, Toulon, Draguignan, ganz Südfrankreich sei dem siegreichen Heer der Aufständischen anheimgefallen. Noch an diesem Abend würden die Aufständischen hierherkommen und Plassans niedermetzeln.
Da begab sich eine Abordnung zum Bürgermeisteramt, um dem Magistratsausschuß die Schließung der Tore vorzuwerfen, die lediglich dazu gut sei, die Aufständischen zu reizen. Rougon, der den Kopf verlor, verteidigte mit letzter Willenskraft seine Anordnung; seiner Meinung nach war das doppelte Verschließen der Stadttore eine der sinnreichsten Handlungen seiner Verwaltung. Er fand überzeugende Worte, sie zu rechtfertigen. Doch man trieb ihn in die Enge, man fragte, wo denn die Soldaten blieben, das Regiment, das er versprochen habe. Da log er und erklärte sehr dreist, er habe überhaupt nichts versprochen. Das Ausbleiben dieses sagenhaften Regiments, so heiß von den Einwohnern herbeigesehnt, daß sie schon von seinem Einrücken geträumt hatten, war die Hauptursache des Entsetzens.
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