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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Wonnen; endlich hatte sie ihn in ihrer Gewalt, diesen schwerfälligen Heimlichtuer! Sie spielte mit ihm wie eine Katze mit einer Papierkugel, und er hielt ihr die Hände hin, damit sie ihm Handschellen anlege!
    »Aber warte«, rief er lebhaft und sprang aus dem Bett, »ich will dir Eugènes Briefe zu lesen geben. Dann wirst du die Lage besser beurteilen können.«
    Vergebens versuchte sie, ihn an einem Hemdzipfel zurückzuhalten. Er breitete die Briefe auf dem Nachttisch aus, legte sich wieder hin, las ganze Seiten, nötigte sie, einige davon selbst zu überfliegen. Sie unterdrückte ein Lächeln und begann Mitleid mit dem armen Mann zu fühlen.
    »Nun?« fragte er angsterfüllt, als er fertig war. »Siehst du jetzt, wo du alles weißt, keine Möglichkeit, uns vor dem Untergang zu retten?«
    Sie antwortete immer noch nicht. Sie schien tief nachzudenken.
    »Du bist eine kluge Frau«, sprach er, um ihr zu schmeicheln. »Ich tat unrecht, meine Pläne vor dir geheimzuhalten, das sehe ich jetzt ein …«
    »Reden wir nicht mehr davon«, entgegnete sie. »Meiner Meinung nach, wenn du viel Mut hättest …« Und als er sie nun begierig ansah, unterbrach sie sich und sagte mit einem Lächeln: »Aber du versprichst mir wohl, mir nicht mehr zu mißtrauen, mir alles zu sagen und nichts mehr zu unternehmen, ohne mich um Rat zu fragen?«
    Er schwor, er nahm die härtesten Bedingungen an.
    Nun ging auch Félicité zu Bett. Ihr war kalt geworden; sie legte sich dicht neben ihn, und so leise, als hätte jemand sie hören können, erläuterte sie ihm ausführlich ihren Feldzugsplan. Ihrer Ansicht nach müsse das Entsetzen die Stadt noch heftiger erschüttern, und Pierre müsse inmitten der bestürzten Einwohnerschaft eine heldenhafte Haltung bewahren. Eine heimliche Ahnung, meinte sie, lasse sie vermuten, daß die Aufständischen noch weit entfernt seien, Überdies werde die Ordnungspartei früher oder später die Oberhand bekommen, und dann würden die Rougons belohnt werden. Nach der Rolle der Retter sei die Rolle der Märtyrer nicht zu verachten. Sie machte ihre Sache so gut, sie sprach mit so viel Überzeugung, daß ihr Mann, zunächst überrascht von der Einfachheit ihres Planes, der darin bestand, sich durch Kühnheit zu behaupten, schließlich eine wunderbare Taktik dahinter erblickte und versprach, sich danach zu richten und den größtmöglichen Mut an den Tag zu legen.
    »Und vergiß nicht, daß ich es bin, die dich rettet«, flüsterte die Alte mit schmeichelnder Stimme. »Wirst du lieb sein?«
    Sie umarmten einander, wünschten sich eine gute Nacht. Es war ein neuer Lenz für die beiden alten, von Habsucht verzehrten Leute. Aber weder er noch sie konnten einschlafen; nach einer Viertelstunde drehte sich Pierre um, der bisher einen runden Fleck betrachtet hatte, den das Nachtlicht an die Decke warf, und teilte seiner Frau mit sehr leiser Stimme einen Gedanken mit, der soeben in seinem Gehirn aufgetaucht war.
    »O nein, nein!« widersprach Félicité leise und schaudernd. »Das wäre zu grausam.«
    »Mein Gott«, erwiderte er, »du willst doch, daß die Einwohner in Bestürzung geraten! – Man würde mich ernst nehmen, wenn das, was ich dir sagte, geschähe …« Dann, als ihm sein Vorhaben selber deutlicher wurde, rief er aus: »Man könnte Macquart dazu verwenden … Das wäre ein Mittel, ihn loszuwerden.«
    Dieser Gedanke schien großen Eindruck auf Félicité zu machen. Sie überlegte, sie zögerte und stammelte dann mit erregter Stimme:
    »Vielleicht hast du recht. Man muß sehen … Schließlich wären wir recht dumm, wenn wir Bedenken hätten; es handelt sich für uns um Leben oder Tod … Laß mich nur machen, ich werde morgen zu Macquart gehen und sehen, ob man sich mit ihm verständigen kann. Du, du würdest dich mit ihm zanken und alles verderben … Gute Nacht, schlaf gut, mein armer Liebling … Sei ruhig, unsere Nöte werden ein Ende nehmen.«
    Sie umarmten einander noch einmal und schliefen ein. Und der Lichtfleck an der Decke vergrößerte sich und starrte wie ein von Entsetzen geweitetes Auge lange auf den Schlaf dieser Bürger, die das Verbrechen in ihren bleichen Betttüchern ausschwitzten und im Traum einen Blutregen in ihr Zimmer herabfallen sahen, dessen große Tropfen zu Goldstücken auf dem Fußboden wurden.
    Am nächsten Morgen ging Félicité, von Pierre mit Verhaltungsmaßregeln versehen, vor Tagesanbruch zum Rathaus, um zu Macquart vorzudringen. In einer Aktenmappe trug sie die

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