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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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versöhnlichen Gedanken geneigt. Seit er die Nase in Herrn Garçonnets Fläschchen gesteckt hatte, empfand er eine noch größere Verachtung für die Republik. Ihm fiel ein, daß vielleicht noch Zeit wäre, mit seinem Bruder Frieden zu schließen. Er erwog, was er für einen Verrat fordern könnte. Sein Groll auf die Rougons fraß ihm noch immer am Herzen; aber er erlebte eine jener Stunden, da man sich, im Bett auf dem Rücken liegend, im stillen harte Wahrheiten sagt, sich vorwirft, daß man sich nicht, und sei es unter Drangabe seiner teuersten Haßgelüste, ein warmes Nest gebaut hat, um seiner seelischen und leiblichen Feigheit zu frönen. Gegen Abend beschloß Antoine, am folgenden Tag seinen Bruder rufen zu lassen. Doch als er am nächsten Morgen Félicité eintreten sah, begriff er, daß man ihn brauchte. Er war auf der Hut.
    Die Unterhaltung dauerte lange, war voller Hinterhalte und wurde von beiden Seiten mit unendlicher Geschicklichkeit geführt. Zunächst tauschten sie allgemeine Klagen aus.
    Félicité, die nach dem groben Auftritt, den ihr Antoine Sonntagabend zu Hause gemacht hatte, überrascht war, ihn beinahe höflich anzutreffen, schlug einen sanft vorwurfsvollen Ton an. Sie sprach mit Bedauern von den Gehässigkeiten, die Familien entzweien. Aber er habe wirklich seinen Bruder mit einer Erbitterung verleumdet und verfolgt, die den armen Rougon außer sich gebracht habe.
    »Weiß der Himmel, mein Bruder hat sich nie wie ein Bruder gegen mich betragen!« entgegnete Mac quart mit verhaltener Heftigkeit. »Ist er mir etwa zu Hilfe gekommen? Er hätte mich in meinem Loch krepieren lassen … Man kann mir, glaube ich, nicht vorwerfen, daß ich ihm, als er freundlich zu mir war – Sie werden sich entsinnen, damals mit den zweihundert Francs –, Schlechtes nachgesagt hätte. Ich habe überall erzählt, daß er ein gutes Herz hat.« Das hieß klar und deutlich: Wenn ihr mich weiterhin mit Geld versehen hättet, wäre ich reizend zu euch gewesen und hätte euch geholfen, statt euch zu bekämpfen. Das ist eure Schuld. Ihr hättet mich kaufen müssen.
    Félicité verstand ihn so gut, daß sie erwiderte:
    »Ich weiß, Sie haben uns der Härte geziehen, weil man überall annimmt, daß wir wohlhabend sind. Aber man irrt sich, mein lieber Schwager. Wir sind arme Leute, wir konnten nie so an Ihnen handeln, wie es der Wunsch unseres Herzens gewesen wäre.« Nach einem Augenblick des Zögerns fuhr sie fort: »Im Notfall könnten wir, wenn die Dinge sehr schlimm ständen, ein Opfer bringen, aber wir sind wirklich arm, sehr arm!«
    Macquart spitzte die Ohren. Die habe ich in der Hand! dachte er. Er tat, als habe er das verschleierte Angebot seiner Schwägerin überhört, und breitete in klagendem Ton sein Elend vor ihr aus; er erzählte vom Tode seiner Frau, von der Flucht seiner Kinder.
    Félicité ihrerseits sprach von der Krise, die das Land durchmachte; sie behauptete, die Republik habe sie vollends zugrunde gerichtet. Ein Wort gab das andere, schließlich kam sie dahin, eine Zeit zu verwünschen, die einen Mann zwinge, seinen Bruder gefangenzunehmen. Wie würde ihnen das Herz bluten, wenn die Justiz ihre Beute nicht wieder herausgeben wollte! Und sie ließ das Wort »Zuchthaus« fallen.
    »Das glaube ich Ihnen nicht«, widersprach Macquart gelassen.
    Sie aber verteidigte sich:
    »Lieber würde ich mit dem eigenen Blut die Ehre der Familie erkaufen. Was ich Ihnen darüber sage, soll Ihnen nur zeigen, daß wir Sie nicht im Stich lassen werden … Ich komme, um Ihnen die Möglichkeit zur Flucht zu geben, mein lieber Antoine.«
    Sie sahen einander einen Augenblick in die Augen und prüften sich mit dem Blick, ehe sie den Kampf aufnahmen.
    »Bedingungslos?« fragte er endlich.
    »Völlig bedingungslos«, antwortete sie. Sie setzte sich neben ihn auf das Ruhebett und fuhr dann entschlossen fort: »Und selbst wenn Sie einen Tausendfrancsschein verdienen wollen, ehe Sie über die Grenze gehen, kann ich Ihnen dazu verhelfen.«
    Abermals trat Schweigen ein.
    »Vorausgesetzt, daß es eine saubere Sache ist«, murmelte Antoine mit nachdenklichem Gesicht. »Sie wissen, ich mag mich nicht in Ihre Machenschaften hineinziehen lassen.«
    »Aber es sind gar keine Machenschaften«, fuhr Félicité mit einem Lächeln über die Bedenken dieses alten Spitzbuben fort. »Nichts ist einfacher: Sie verlassen sofort dieses Zimmer, Sie verstecken sich bei Ihrer Mutter, und heute abend werden Sie Ihre Freunde zusammenrufen und das Rathaus

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