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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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anzuzünden. Das abgesperrte, völlig verwirrte Plassans zerfleischte sich selber in seinem Mauergefängnis und wußte nicht mehr, was alles es ersinnen sollte, um sich noch mehr zu fürchten. Die Republikaner wurden vorübergehend stutzig angesichts der stolzen Haltung Rougons. Was die Rechtsanwälte und die jetzt im Ruhestande lebenden Kaufleute der Neustadt betrifft, die noch tags zuvor den gelben Salon so heftig verunglimpft hatten, so waren sie dermaßen überrascht, daß sie nicht mehr wagten, einen Mann von solchem Mut offen anzugreifen. Sie begnügten sich mit der Feststellung, daß es verrückt sei, den siegreichen Aufständischen so zu trotzen, und daß dieser unnötige Heldenmut das größte Unglück auf Plassans herabbeschwören werde. Später, gegen drei Uhr, stellten sie eine Abordnung zusammen. Pierre, der darauf brannte, sein aufopferndes Verhalten vor seinen Mitbürgern herauszustreichen, hatte auf eine so schöne Gelegenheit nicht zu hoffen gewagt.
    Er fand erhabene Worte. Im Amtszimmer des Bürgermeisters empfing der Präsident des provisorischen Ausschusses die Abordnung der Neustadt. Nachdem die Herren seiner Vaterlandsliebe alle Ehre hatten angedeihen lassen, beschworen sie ihn, nicht an Widerstand zu denken. Doch er sprach mit lauter Stimme von Pflicht, Vaterland, Ordnung, Freiheit und anderen Dingen. Übrigens zwinge er niemanden, ihm nachzueifern, er vollbringe lediglich das, was sein Gewissen, sein Herz ihm vorschrieben.
    »Sie sehen, meine Herren, ich bin ganz allein«, führte er abschließend aus. »Ich will die volle Verantwortung auf mich nehmen, damit außer mir niemand gefährdet wird. Und wenn ein Opfer gefordert wird, so biete ich mich von ganzem Herzen dazu an; ich möchte gern mit dem Opfer des eigenen Lebens das meiner Mitbürger retten.«
    Ein Notar, der fähigste Kopf der Abordnung, gab ihm zu verstehen, daß er dem sicheren Tode entgegengehe.
    »Das weiß ich«, antwortete er ernst. »Ich bin bereit!«
    Die Herren sahen einander an. Dieses »Ich bin bereit!« machte sie starr vor Bewunderung. Wahrlich, dieser Mann war ein tapferer Mann. Der Notar beschwor ihn, die Gendarmen zu sich zu beordern. Rougon aber antwortete, das Blut dieser Soldaten sei kostbar und dürfe nur im äußersten Notfall vergossen werden. Langsam, tiefbewegt zog sich die Abordnung zurück. Eine Stunde später war Rougon in den Augen von Plassans ein Held; die ärgsten Feiglinge nannten ihn »einen alten Narren«.
    Gegen Abend sah Rougon zu seinem großen Erstaunen Granoux herbeieilen. Der ehemalige Mandelhändler warf sich ihm in die Arme, nannte ihn einen »großen Mann« und sagte, er wolle mit ihm sterben. Das »Ich bin bereit!«, das sein Dienstmädchen von der Gemüsehändlerin mitbrachte, hatte ihn wahrhaft begeistert. Dieser furchtsame, komische Kerl war im Grunde von einer reizenden Kindlichkeit. Pierre behielt ihn bei sich, denn er dachte, das werde keinerlei Folgen nach sich ziehen. Er war sogar gerührt von der Ergebenheit des armen Teufels; er nahm sich vor, ihn öffentlich vom Präfekten belobigen zu lassen, worüber die übrigen Bürger, die ihn so feige im Stich gelassen hatten, vor Neid bersten würden. Und zu zweit erwarteten sie die Nacht in der verwaisten Bürgermeisterei.
    Zur selben Stunde ging Aristide tiefbeunruhigt zu Hause auf und ab. Vuillets Artikel hatte ihn überrascht. Die Haltung seines Vaters versetzte ihn in starres Staunen. Er hatte ihn soeben an einem Fenster gesehen, in schwarzem Überrock und weißer Binde und so ruhig angesichts der nahenden Gefahr, daß alle Vorstellungen in Aristides armem Kopf durcheinandergeraten waren. Die ganze Stadt glaubte immerhin fest, daß die Aufständischen als Sieger zurückkehren würden. Aber ihm kamen Zweifel, er witterte ein grausiges Possenspiel. Da er es nicht mehr wagte, sich bei seinen Eltern blicken zu lassen, hatte er seine Frau hingeschickt. Als Angèle zurückkam, erzählte sie mit ihrer schleppenden Stimme: »Deine Mutter erwartet dich; sie ist gar nicht böse auf dich, aber es kommt mir so vor, als mache sie sich gründlich über dich lustig. Sie hat mir mehrfach wiederholt, du könntest deine Armbinde wieder in die Tasche stecken.«
    Aristide ärgerte sich entsetzlich. Trotzdem lief er in die Rue de la Banne, zu demütiger Unterwerfung bereit. Seine Mutter begnügte sich damit, ihn mit verächtlichem Lachen zu empfangen.
    »Ach, mein armer Junge«, sagte sie, als sie ihn erblickte, »du hast wirklich nicht gerade das Pulver

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