Das Glück der Familie Rougon - 1
mit den Händen hin und her wie ein Kind, das zu einer Schulfeier geht, bei der die besten Schüler ausgezeichnet werden. Als er dann fertig war, betrachtete sie ihn und erklärte, daß er sehr anständig aussehe und sich bei den schwerwiegenden Ereignissen, die sich vorbereiteten, recht gut ausnehmen werde. Sein volles, blasses Gesicht hatte wirklich etwas ungemein Würdevolles und den Ausdruck heroischen Starrsinns. Sie begleitete ihn bis zum ersten Stock und gab ihm dabei ihre letzten Verhaltungsmaßregeln: er dürfe nichts von seiner mutigen Haltung aufgeben, wie groß auch das Entsetzen sein möge; die Stadttore müßten fester denn je verschlossen werden und die Stadt ihrer Todesangst innerhalb der Wälle überlassen bleiben, und es wäre ganz ausgezeichnet, wenn er als einziger bereit sei, für die Sache der Ordnung zu sterben.
Was für ein Tag! Noch heute sprechen die Rougons davon wie von einer ruhmreichen Entscheidungsschlacht. Pierre ging geradeswegs zum Rathaus, ohne sich durch die Blicke und Worte, die er unterwegs auffing, beunruhigen zu lassen. Dort ließ er sich feierlich nieder wie ein Mann, der entschlossen ist, nicht mehr von seinem Platz zu weichen. Er schickte ein kurzes Schreiben an Roudier, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, daß er, Rougon, die Verwaltungsgeschäfte wieder übernehme.
»Bewachen Sie die Stadttore«, schrieb er, in dem Bewußtsein, daß diese Zeilen an die Öffentlichkeit gelangen könnten. »Ich selbst werde im Inneren der Stadt wachen; ich werde Eigentuhm und Leben der Einwohner schützen. In dem Augenblik, wo die bösen Leidenschafften auflohdern und über Hand zu nehmen drohen, müssen die wohlgesonnenen Bürger sie mit Gefahr ihres Lebens zu erstiken versuchen.«
Der Stil und die Rechtschreibungsfehler ließen dieses mit klassischer Kürze abgefaßte Schreiben nur noch heldenhafter erscheinen. Kein einziger der Herren des provisorischen Ausschusses erschien. Die beiden letzten Getreuen, selbst Granoux, blieben vorsichtigerweise zu Hause. Von diesem Ausschuß, von dessen Mitgliedern immer mehr verschwunden waren, je stärker der Sturmwind des Entsetzens blies, blieb einzig Rougon auf seinem Posten, auf seinem Präsidentenstuhl. Er geruhte nicht einmal, den anderen eine Aufforderung zu schicken. Er allein genügte. Ein erhabenes Schauspiel, das ein Lokalblatt später mit dem Satz charakterisieren sollte: »Mut reichte der Pflicht die Hand.«
Den ganzen Vormittag über sah man Pierre im Hause hin und her laufen. Er war völlig allein in dem großen, leeren Gebäude, dessen hohe Säle lange von seinen Schritten widerhallten. Übrigens standen alle Türen offen. Mitten in dieser Öde trug er seine vom Magistrat im Stich gelassene Präsidentenschaft mit einer Miene spazieren, die so durchdrungen war von seiner Sendung, daß ihn der Pförtner, der ihn zwei oder dreimal in den Gängen traf, erstaunt und ehrfürchtig grüßte. Man sah ihn hinter jedem Fenster, und trotz der empfindlichen Kälte erschien er mehrmals mit Aktenbündeln in den Händen auf dem Balkon, wie ein vielbeschäftigter Mann, der wichtige Nachrichten erwartet.
Gegen Mittag eilte er dann durch die Stadt. Er visitierte die Posten, sprach von einem möglichen Angriff und gab zu verstehen, daß die Aufständischen nicht fern seien, doch zähle er, wie er sagte, auf den Mut der tapferen Nationalgardisten; wenn nötig, müßten sie sich bis zum letzten Mann für die Verteidigung der guten Sache opfern. Als er von dieser Ronde zurückkehrte, langsam und gemessen, in der Haltung eines Helden, der die Angelegenheiten seines Vaterlandes geordnet hat und nur noch den Tod erwartet, konnte er unterwegs eine offensichtliche Verblüfftheit feststellen. Die Spaziergänger auf dem Cours Sauvaire, die unverbesserlichen kleinen Rentiers, die keinerlei Katastrophe daran zu hindern vermocht hätte, zu gewohnter Stunde gaffend in der Sonne zu stehen, starrten ihn entgeistert an, als kennten sie ihn nicht und könnten nicht glauben, daß einer der Ihren, ein ehemaliger Ölhändler, die Stirn habe, einer ganzen Armee Trotz zu bieten.
In der Stadt hatte die Angst ihren Höhepunkt erreicht. Von einer Minute zur anderen erwartete man die Aufständischen. Das Gerücht vom Verschwinden Macquarts wurde auf sehr beunruhigende Art ausgelegt. Es wurde behauptet, seine Freunde, die Roten, hätten ihn befreit, und er warte in irgendeinem Winkel die Nacht ab, um sich auf die Einwohner zu stürzen und die Stadt an allen vier Ecken
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