Das Glück der Familie Rougon - 1
fügte er hinzu: »Ei was! Ich kann schließlich auch ein bißchen Verräterei treiben.«
In diesem Augenblick kam der Trupp der ehemaligen Öl und Mandelhändler.
»O die lieben Reaktionäre!« fuhr Herr de Carnavant mit leiser Stimme fort. »Siehst du, Kleine, die große Kunst in der Politik besteht darin, zwei gute Augen zu haben, während die andern Leute blind sind. Du hast alle guten Karten in deinem Spiel.«
Am andern Tag wollte Félicité, durch diese Unterhaltung aufgestachelt, Gewißheit haben. Man war damals in den ersten Tagen des Jahres 1851. Seit mehr als achtzehn Monaten bekam Rougon regelmäßig alle vierzehn Tage einen Brief von seinem Sohn Eugène. Er pflegte sich ins Schlafzimmer einzuschließen, um diese Briefe zu lesen, die er nachher ganz hinten in einem alten Schreibtisch versteckte, dessen Schlüssel er sorgfältig in der Westentasche verwahrte. Wenn ihn seine Frau fragte, begnügte er sich mit der Antwort: »Eugène schreibt, daß es ihm gut geht.« Schon lange träumte Félicité davon, die Hand auf die Briefe ihres Sohnes zu legen. Am nächsten Morgen, Pierre schlief noch, ging sie auf Zehenspitzen hin und vertauschte den Schreibtischschlüssel in der Westentasche mit dem Kommodenschlüssel, der die gleiche Größe hatte. Sobald dann ihr Mann fortgegangen war, schloß sie sich ihrerseits ein, leerte die Schublade und las mit fieberhafter Neugier die Briefe.
Herr de Carnavant hatte sich nicht geirrt, und ihr eigener Verdacht bestätigte sich. Es lagen da etwa vierzig Briefe, an Hand derer sie die große bonapartistische Bewegung verfolgen konnte, die in der Errichtung des Kaiserreichs münden sollte. Es war eine Art kurzgefaßtes Tagebuch, das die Ereignisse fortlaufend aufzeichnete und aus jedem einzelnen Hoffnung und Ratschläge schöpfte. Eugène hatte unbedingtes Vertrauen zur Sache. Er sprach seinem Vater gegenüber von dem Prinzen Louis Bonaparte als von dem notwendig und unvermeidlich kommenden Mann, der allein die Lage entwirren könne. Er hatte schon an ihn geglaubt, bevor er nach Frankreich zurückgekehrt war, zu einer Zeit, da man den Bonapartismus noch als lächerliches Hirngespinst abtat. Félicité sah jetzt, daß ihr Sohn seit 1848 ein sehr tätiger geheimer Agent war. Obgleich er sich nicht deutlich über seine Stellung in Paris äußerte, war es klar, daß er unter der Führung von Leuten, die er mit einer gewissen Vertraulichkeit erwähnte, für das Kaiserreich arbeitete. Jeder seiner Briefe stellte ein Fortschreiten der Angelegenheit fest und ließ eine baldige Lösung voraussehen. Sie schlossen gewöhnlich damit, Pierre eine Richtschnur zu geben, an die er sich in Plassans halten sollte. Félicité konnte sich jetzt gewisse Äußerungen, gewisse Handlungen ihres Mannes erklären, deren Zweck ihr bisher entgangen war; Pierre gehorchte seinem Sohn und folgte blindlings seinen Ratschlägen.
Als die alte Frau alles gelesen hatte, war sie überzeugt. Die Gedankengänge ihres Sohnes lagen jetzt offen vor ihr. Er gedachte, in dem Wirrwarr sein Glück als Politiker zu machen und bei dieser Gelegenheit seinen Eltern die Kosten für seine Erziehung zurückzuerstatten, indem er ihnen in der Stunde der Beuteteilung einen Brocken zuwarf. Wenn ihm sein Vater nur irgendwie behilflich war, sich der großen Sache nützlich erwies, würde es ihm, Eugène, ein leichtes sein, seine Ernennung zum Steuerdirektor zu veranlassen. Man würde ihm nichts abschlagen können, ihm, der alle zehn Finger in den geheimsten Machenschaften hatte. Seine Briefe waren eine einfache Vorsichtsmaßregel, eine Vorkehrung, die verhüten sollte, daß die Rougons Dummheiten begingen. Deshalb empfand Félicité eine lebhafte Dankbarkeit. Sie las mehrere Briefstellen noch einmal, diejenigen, worin Eugène in unbestimmten Wendungen von der Schlußkatastrophe sprach. Diese Katastrophe, deren Natur und Tragweite ihr undurchsichtig waren, wurde in ihrer Vorstellung zu einer Art Weltuntergang: Gott würde die Auserwählten zu seiner Rechten aufstellen und die Verdammten zu seiner Linken, und sie selbst reihte sich unter die Auserwählten.
Nachdem es ihr in der folgenden Nacht gelungen war, den Schreibtischschlüssel wieder in die Westentasche ihres Gatten zu stecken, nahm sie sich vor, künftig dasselbe Mittel anzuwenden, um jeden neu eintreffenden Brief zu lesen. Ebenso beschloß sie, die Ahnungslose zu spielen. Diese Taktik war ausgezeichnet. Von jenem Tag an konnte sie ihren Mann noch wirksamer unterstützen, weil
Weitere Kostenlose Bücher