Das Glück der Familie Rougon - 1
Dienste zu erweisen. In diesem Falle rate ich euch, zu Hause zu bleiben und in Frieden die Wohltaten eures Sohnes Eugène abzuwarten. Wenn aber das Volk aufsteht und unsere biederen Bürger sich bedroht glauben, dann gäbe es wohl eine hübsche Rolle zu spielen … Dein Gatte ist ein wenig schwerfällig …«
»Oho«, meinte Félicité, »ich nehme es auf mich, ihn beweglich zu machen … Glauben Sie, daß sich das Departement empören wird?«
»Meiner Ansicht nach bestimmt. Plassans selbst wird sich vielleicht nicht rühren, die Reaktion hat hier zu festen Fuß gefaßt. Aber die benachbarten Städte, namentlich die Marktflecken und die Dörfer werden schon lange von Geheimbünden bearbeitet und gehören der radikalen republikanischen Partei an. Sollte es zu einem Staatsstreich kommen, so wird man in der ganzen Gegend die Sturmglocken hören, von den SeilleWäldern bis zum Hochland von SainteRoure.«
Félicité wurde nachdenklich.
»So glauben Sie also, daß ein Aufstand notwendig ist, um unser Glück zu sichern?«
»Das ist meine Meinung«, antwortete Herr de Carnavant. Und mit einem leicht ironischen Lächeln fügte er hinzu: »Eine neue Dynastie läßt sich nur in einem großen Wirrwarr gründen. Blut ist ein guter Dünger. Es würde schön sein, wenn die Rougons wie manche berühmte Familie aus einem Blutbad aufstiegen.«
Diese von einem halben Grinsen begleiteten Worte ließen einen kalten Schauer über Félicités Rücken rieseln. Doch sie war ein Verstandesmensch, und der Anblick der schönen Vorhänge des Herrn Peirotte, die sie jeden Morgen mit Andacht betrachtete, hielt ihren Mut aufrecht. Sobald sie sich schwach werden fühlte, stellte sie sich ans Fenster und blickte auf das Haus des Steuerdirektors. Das waren ihre Tuilerien, ihre. Sie war zum Äußersten entschlossen, um in die Neustadt einziehen zu können, jenes gelobte Land, auf dessen Schwelle sie seit so vielen Jahren vor Sehnsucht brannte.
Durch die Unterhaltung mit dem Marquis war ihr die Lage völlig klar geworden. Wenige Tage später konnte sie in einem Brief von Eugène lesen, daß dieser Helfer beim Staatsstreich ebenfalls mit einem Aufstand rechnete, der dem Vater Ansehen verleihen könnte. Eugène wußte Bescheid in seinem Departement. All seine bisherigen Ratschläge hatten bezweckt, den Reaktionären des gelben Salons soviel Einfluß wie möglich in die Hände zu spielen, damit die Rougons im entscheidenden Augenblick in der Lage wären, die Stadt zu halten. Wenn es nach seinen Wünschen ging, hatte der gelbe Salon im November 1851 Plassans in seiner Gewalt. Roudier war der Vertreter des reichen Bürgertums; sein Verhalten würde mit Sicherheit das der gesamten Neustadt bestimmen. Granoux war noch wertvoller; er hatte den Stadtrat hinter sich, dessen einflußreichstes Mitglied er war, wonach man sich einen Begriff von den andern Mitgliedern machen kann. Durch den Kommandanten Sicardot endlich, dessen Ernennung zum Befehlshaber der Nationalgarde der Marquis durchgesetzt hatte, verfügte der gelbe Salon über die bewaffnete Macht. Somit war es den Rougons, diesen übelbeleumundeten armen Schluckern, gelungen, die Werkzeuge um sich zu sammeln, die zu ihrem Glück nötig waren. Jeder mußte, sei es aus Feigheit, sei es aus Dummheit, ihnen gehorchen und blind an ihrem Emporkommen arbeiten. Sie hatten nun weiter nichts zu fürchten als Einflüsse anderer, die möglicherweise im gleichen Sinne handelten wie sie selbst und ihnen einen Teil ihres mit Anstrengung erworbenen Verdienstes am Sieg rauben konnten. Das war ihre große Sorge, denn sie wollten ganz allein die Rolle des Retters spielen. Sie wußten im voraus, daß Klerus und Adel sie eher unterstützen als hemmen würden. Falls sich jedoch der Unterpräfekt, der Bürgermeister und die anderen Beamten vordrängten und den Aufstand unverzüglich unterdrückten, würden sich die Rougons in den Schatten gestellt und sogar in ihren Heldentaten behindert sehen; sie würden dann weder Zeit noch Mittel haben, sich nützlich zu erweisen. Was sie sich erträumten, war vollständige Tatenlosigkeit und allgemeine Panik sämtlicher Beamten. Wenn die ganze ordnungsgemäße Verwaltung verschwände und das Schicksal von Plassans auch nur einen einzigen Tag in ihren Händen lag, dann war ihr Glück gemacht. Günstig für sie war, daß kein einziger Mann in der ganzen Verwaltung überzeugt und rührig genug war, das Spiel zu wagen. Der Unterpräfekt war ein alter Liberaler, den die Exekutive in
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