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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Plassans vergessen hatte, wohl dank des guten Rufs der Stadt; schüchtern von Natur, unfähig zu einer Gewaltmaßnahme, mußte er angesichts eines Aufstands in große Verlegenheit geraten. Die Rougons, die ihn als der demokratischen Sache wohlgesonnen kannten und folglich keinen Übereifer seinerseits befürchteten, fragten sich nur voller Neugier, was für eine Haltung er einnehmen werde. Die Stadtverwaltung verursachte ihnen kaum größere Sorge. Der Bürgermeister, Herr Garçonnet, war ein Legitimist, dessen Ernennung das SaintMarcViertel im Jahre 1849 erreicht hatte; er verabscheute die Republikaner und behandelte sie sehr von oben herab. Andererseits hatte er zu viele freundschaftliche Beziehungen zu gewissen Angehörigen des Klerus, um einen bonapartistischen Staatsstreich tatkräftig zu unterstützen. Mit den übrigen Beamten verhielt es sich ebenso. Die Friedensrichter, der Postvorsteher, der Steuereinnehmer wie auch der Steuerdirektor, Herr Peirotte, alles Männer, die ihre Stellung der klerikalen Reaktion verdankten, konnten unmöglich das Kaiserreich mit großer Begeisterung begrüßen. Wenn die Rougons auch nicht recht wußten, wie sie sich dieser Leute entledigen und reinen Tisch machen sollten, um sich allein in den Vordergrund zu schieben, gaben sie sich dennoch großen Hoffnungen hin, da sie niemanden entdeckten, der ihnen ihre Retterrolle streitig machen würde.
    Die Katastrophe nahte heran. Als in den letzten Novembertagen das Gerücht von einem Staatsstreich umging und man den PrinzPräsidenten verdächtigte, er wolle sich zum Kaiser ausrufen lassen, hatte Granoux laut erklärt: »Nun, wir rufen ihn zu allem aus, wozu er Lust hat, vorausgesetzt, daß er diese Lumpen von Republikanern an die Wand stellen läßt!«
    Dieser Ausruf des Herrn Granoux, den man eingeschlafen wähnte, verursachte große Aufregung. Der Marquis tat, als habe er nichts gehört, aber alle bürgerlichen Anwesenden nickten dem früheren Mandelhändler beistimmend zu. Roudier, der auf Grund seines Reichtums den Mut besaß, seinen Beifall laut zu äußern, erklärte sogar mit einem Seitenblick auf Herrn de Carnavant, daß der jetzige Zustand unhaltbar sei und daß in Frankreich so schnell wie möglich aufgeräumt werden müsse, gleichgültig, von wessen Hand.
    Der Marquis beobachtete weiterhin Stillschweigen, was ihm als Zustimmung ausgelegt wurde. Das Lager der Konservativen wurde also seinen legitimistischen Bestrebungen untreu und wagte es, sich dem Kaiserreich zu verschreiben.
    »Meine Freunde!« sagte der Kommandant Sicardot und erhob sich. »Nur ein Napoleon vermag heute die bedrohten Menschenleben und das bedrohte Eigentum zu schützen … Seien Sie aber ohne Sorge, ich habe die notwendigen Vorkehrungen getroffen, damit die Ordnung in Plassans nicht gestört wird!«
    Tatsächlich hatte der Kommandant im Einvernehmen mit Rougon in einer Art Pferdestall nahe den Festungswällen einen Vorrat an Patronen und eine recht beträchtliche Anzahl von Gewehren versteckt; zugleich hatte er sich der Mitwirkung von Nationalgardisten versichert, auf die er zählen zu können glaubte. Seine Worte machten einen ausgezeichneten Eindruck. An diesem Abend sprachen die friedlichen Bürger des gelben Salons beim Auseinandergehen davon, »die Roten« niederzumachen, falls sie sich unterstehen sollten, sich auch nur zu rühren.
    Am 1. Dezember bekam Pierre Rougon einen Brief von Eugène. Mit gewohnter Vorsicht ging er ins Schlafzimmer, um ihn zu lesen. Félicité fiel es auf, daß er beim Herauskommen sehr aufgeregt war. Den ganzen Tag schlich sie um den Schreibtisch herum. Als endlich die Nacht kam, vermochte sie sich nicht länger zu gedulden. Kaum war ihr Mann eingeschlafen, als sie leise aufstand, den Schreibtischschlüssel aus der Westentasche zog und sich so geräuschlos wie möglich des Briefes bemächtigte. In zehn Zeilen verständigte Eugène seinen Vater davon, daß die Entscheidung unmittelbar bevorstehe, und riet ihm, seine Mutter von der Lage in Kenntnis zu setzen. Die Stunde, sie von allem zu unterrichten, sei gekommen; er, der Vater, könnte jetzt vielleicht ihres Rates bedürfen.
    Am folgenden Morgen erwartete Félicité eine vertrauliche Mitteilung, die nicht erfolgte. Sie wagte ihr neugieriges Vorgreifen nicht einzugestehen und fuhr fort, die Ahnungslose zu spielen, innerlich wutentbrannt über das törichte Mißtrauen ihres Mannes, der sie ohne Zweifel für ebenso schwatzhaft und schwach wie alle die anderen Frauen hielt.

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