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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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jeder anderen Zeit überrascht hätte. Aber er sah beim Hereinkommen nicht einmal seinen Onkel Rougon, der in einer Ecke auf der alten Truhe saß. Er wartete die Fragen der armen Alten nicht erst ab.
    »Großmutter«, begann er schnell, »Sie müssen mir verzeihen … Ich ziehe mit den andern fort … Sehen Sie nur, ich habe da Blut … Ich glaube, ich habe einen Gendarmen umgebracht.«
    »Du hast einen Gendarmen umgebracht?« wiederholte Tante Dide mit seltsamer Stimme. Ein scharfes Leuchten erwachte in ihren Augen, die sich auf die roten Blutflecke hefteten. Plötzlich drehte sie sich nach dem Kaminsims um. »Du hast die Flinte genommen«, sagte sie. »Wo ist die Flinte?«
    Silvère, der die Flinte bei Miette zurückgelassen hatte, schwor ihr, daß die Waffe in Sicherheit sei. Zum erstenmal erwähnte Adélaïde vor ihrem Enkel den Schmuggler Macquart.
    »Du bringst die Flinte doch wieder? Versprich mir das!« fügte sie mit einem eigentümlichen Nachdruck hinzu … »Sie ist alles, was mir von ihm geblieben ist … Du hast einen Gendarmen umgebracht, und er ist von einem Gendarmen umgebracht worden.« Sie sah Silvère unverwandt mit einem Ausdruck grausamer Befriedigung an und dachte offenbar nicht daran, ihn zurückhalten zu wollen. Sie verlangte keinerlei Erklärung von ihm; sie weinte auch nicht, wie sonst die guten Großmütter, die ihre Enkel schon bei der geringsten Kratzwunde in Lebensgefahr sehen. Ihr ganzes Sein schien auf einen einzigen Gedanken gerichtet zu sein, dem sie endlich voll brennender Neugier Ausdruck gab. »Hast du den Gendarmen mit der Flinte getötet?« fragte sie.
    Offenbar hörte Silvère nicht hin oder verstand nicht.
    »Ja«, erwiderte er. »Jetzt will ich mir die Hände waschen gehen.«
    Erst als er vom Brunnen zurückkam, entdeckte er seinen Onkel. Pierre war blaß geworden, als er die Worte des jungen Burschen hörte. Wirklich, Félicité hatte recht, seine Familie fand geradezu Vergnügen daran, ihm Schande zu machen. Nun brachte also einer seiner Neffen Gendarmen um! Niemals würde er, Rougon, den Posten des Steuerdirektors bekommen, wenn er nicht diesen rasenden Narren daran hinderte, sich den Aufständischen anzuschließen. Er stellte sich vor die Tür, fest entschlossen, ihn nicht hinauszulassen.
    »Hören Sie mal!« sprach er zu Silvère, der sehr überrascht war, den Onkel hier zu finden. »Ich bin das Oberhaupt der Familie, ich verbiete Ihnen, das Haus zu verlassen. Es geht um Ihre und um unsere Ehre. Morgen werde ich dafür sorgen, daß Sie über die Grenze kommen!«
    Silvère zuckte mit den Achseln.
    »Lassen Sie mich vorbei!« entgegnete er ruhig. »Ich bin kein Spitzel; ich werde Ihr Versteck nicht verraten, Sie können unbesorgt sein.« Und als Rougon fortfuhr, von der Würde der Familie zu reden und von der Autorität, die ihm seine Eigenschaft als Ältester verlieh, warf der Bursche ein: »Gehöre ich etwa zu Ihrer Familie? Sie haben mich stets verleugnet … Heute hat die Angst Sie hierher verschlagen, denn Sie fühlen wohl, daß der Tag der Abrechnung gekommen ist. Machen Sie mir Platz! Ich verstecke mich nicht, ich habe eine Pflicht zu erfüllen.«
    Rougon wich nicht. Da legte Tante Dide, die Silvères heftigen Worten in einer Art Verzückung gelauscht hatte, ihre magere Hand auf den Arm ihres Sohnes.
    »Geh beiseite, Pierre«, sagte sie, »das Kind muß fort.«
    Der junge Bursche schob den Onkel leicht weg und stürzte davon. Rougon verschloß sorgfältig die Tür und wandte sich mit einer Stimme voller Zorn und Drohung an seine Mutter:
    »Wenn ihm ein Unglück zustößt, dann ist es Ihre Schuld … Sie sind eine alte Närrin, Sie wissen gar nicht, was Sie eben getan haben.«
    Doch Adélaïde schien ihn nicht zu hören; sie warf ein Stück Rebholz in das erlöschende Feuer und murmelte mit verlorenem Lächeln:
    »Ich kenne das … Er blieb ganze Monate draußen, dann aber kam er gesünder zu mir zurück.« Zweifellos sprach sie von Macquart.
    Unterdessen rannte Silvère zur Markthalle zurück. Als er sich der Stelle näherte, wo er Miette zurückgelassen hatte, hörte er lebhaftes Stimmengewirr und sah einen Menschenauflauf, so daß er seine Schritte beschleunigte. Ein peinlicher Vorfall hatte sich zugetragen. Neugierige liefen zwischen den Aufständischen herum, seit diese sich ruhig ans Essen gemacht hatten. Unter diesen Gaffern war Justin, der Sohn des Halbpächters Rébufat, ein etwa zwanzigjähriger schwächlicher Bursche von verdächtigem Aussehen, der einen

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