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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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an, und sie zitierte all das, was ihr einfiel, und das war vor allem Repertoire. ›Wenn du mal groß bist, Leopold‹, begann sie, ›dann sieh dich um in Deutschland-Preußen. Stell dich auf einen Aussichtsstand, und vor dir liegt dein Vaterland: Ganz oben thront die Schicht mit Geld, die hat die Kohlen, Stahl und Rüben; die lenkt den Lauf der deutschen Welt, die läßt die Reichswehr kräftig üben. Augen gradeaus! Gehorsam harret ihres Winks, das Korps der Rache in Talaren, so lernten sie’s auf Seminaren.‹
    Sie spürte die Wärme der Kinder neben sich, sie ließ ihre Gedanken weiterstreifen, es half, nichts zu denken, nur zu zitieren. ›Und willst du wissen, wem du das verdankst, dies Reich von kleinen Strebern: dann wein dir nicht die Äuglein naß – dann wandle du zu deutschen Gräbern. Auf jedem einGedenkstein: Da liegen, die zu meiner Zeit aus Angst vorm Volk die eignen Ziele verrieten – taktisch so gescheit! und klug! und überhaupt Schlemihle. Sie machten schon im Umsturz schlapp und saßen ängstlich auf der Banke. Charakter war bei denen knapp. Leg einen Kranz auf jedes Grab und dann sag leise, leise: Danke.‹
    Sie schloß die Augen, versuchte sich weiter zu erinnern, den Augenblick abzupassen, wenn der Text auf der Zunge lag: ›Da steht nun Gustav der Verstopfte, aus Eisenguß, die Hand am Knauf. Jedwedes brave Herze klopfte und schlug zu jenem Standbild auf. Und da: Er wackelt auf dem Sockel, man gab ihm einen kräftigen Schub. Die Adler, seine Ruhmesgockel, das kommt nun alles hin zu Krupp.‹
    Sie spürte das Kratzen der Wolldecken nicht, sie hörte nur noch vereinzelt das Kreischen in der Luft über ihnen, das dumpfe Grollen unter ihnen, die Detonationen, von denen ein Zittern blieb, das nicht mehr wich und den Geschmack von Kohlenstaub mit sich führte. Sie murmelte weiter ihre unerhörten Gebete, sie spürte die Herzschläge ihrer Kinder, mit ihren Händen und ihren Gedanken schob sie alles, was draußen war, fort, sie überzeugte sich, daß die Wut des Wunsches, das zu überleben, sie überleben ließ. Sie hörte den Atem ihrer Kinder, es wurde ein gemeinsamer Atem. Sie spürte die Wärme ihrer Kinder, und das wurde ihre gemeinsame Wärme, sie preßte ihre Wangen, ihre Lippen in die Haare ihrer Kinder, sie war eins mit den Köpfen, Hälsen, Schultern, mit ihren Körpern. Eins, das nichts mehr spürte. In den Zwischenräumen bohrte die Todesangst ihre Gänge aus, wie ein Preßlufthammer schob sie sich ins Fundament, unterhöhlte den Zusammenhalt. Sentas Tränen durchweichten Nadjas Kleidung, Peters Weinen übertrug sich auf sie wie ein leidiger, elender Schnupfen.
    Beim nächsten Alarm bat Peter leise: »Sing wieder, Mama.«
    »Was?« fragte sie flüsternd.
    Er kletterte unter ihren Arm.
    Sie schloß die Augen, sah ihren Mann vor sich, wie er im Keller des Bürogebäudes sitzen mußte, allein, sah die Wohnung von Herrn Weniger vor sich, still und leer, sie verließ ihre Garderobe, betrat den dunklen Gang hinter der Bühne, ging vor bis zu den Kulissen, stellte sich seitlich in den Bühnenaufbau, sah ihre Schuhe, ihre Beine in den glänzenden Strümpfen, sah ihren blauen Rock, die blaue Bluse, ihre Uniform, unter der sie das flügelschimmernde Kleidchen trug, das später zum Vorschein kommen würde, sie hörte Ottos Stimme als Conferencier, trat auf die Bühne ins Scheinwerferlicht, das den Raum dahinter in Dunkelheit abschloß, und sang.
    Und als sie nicht mehr wußte, was sie noch singen konnte, fing sie wieder von vorne an und erfand alle Texte neu dazu.
    Am Ende dieser Bombennacht Mitte April 1945 sagte Peter zu seinem Vater: »Es war nicht eine Sekunde still gewesen.«
    »Die Stadt liegt in Schutt und Asche«, sagte Anton.
    »Ich habe keine Angst gehabt.«
    »Gut«, sagte sein Vater fahrig und vollkommen fahl im Gesicht.
    »Wir alle im Keller nicht.«
    »Die Angst ist schlimmer, als wenn’s passiert.« Anton konnte seinen Sohn nicht anschauen.
    »Einmal kam der Blockwart und guckte komisch. Er gibt immer nur uns die Befehle. Aber weißt du was, Papulja?«
    »Was?«
    »Niemand kennt das Geheimnis.«
    »Welches Geheimnis?«
    »Daß Mama aus Rußland ist.«
    »Es ist auch besser, wenn das so bleibt.«
    »Alle sagen, wenn die Russen kommen.«
    »Es ist nie so schlimm, wie alle sagen. Die Leute reden, und während sie reden, werden die Dinge groß. Das ist mit allem so. Sie reden die Dinge groß, so daß sie Angst bekommen müssen. Es ist gut, daß unsere Mutter nicht zu den Frauen

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