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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Rhythmus, das Licht im anderen Fenster. Die Enge in ihrem Hals löste sich ein wenig, als sie sah, wie das Morsezeichen morste. An. Aus. An. Das erste Mal seit langem hob sie ihre Stimme und rief. »Auf kurz oder lang werde ich dich das Leben kosten.«
    Wie eine Zeile von einer Bühne gesprochen. An. Aus. Aus. An.
    Anton hatte die Serviette gedreht und gezwirbelt, den Schweiß seiner Handflächen am Leinen abgestreift, er hatte mit einer Hand seine Stirn gehalten, das Gewicht seines Kopfes gespürt und darauf gewartet, daß sein Optimismus die Leere fluten würde.
    Er legte sich schlafen, stand auf, ging in die Redaktion, versenkte sich in seine Arbeit, in jede Geschichte, in jedes Horoskop, wenn die Angst hochkam, tippte er Meldungen einfach noch einmal ab. Das ging gut, wenn er zwischen seinenKollegen war, mit ihnen redete, lachte, wenn er Aufgaben übernahm, anderen half, immer ein offenes Ohr für sie hatte, ihnen seine Ideen nannte, bei der Sache war, von einem zum nächsten eilte – dann fiel es ihm nicht schwer, ein Mann zu sein, der nicht das geringste Problem mit seiner Frau oder eine diffuse Angst vor allem Möglichen hatte.
    In der Redaktion hatte er sich einen Ruf erarbeitet. Je dramatischer die Tagesnachrichten, desto hoffnungsvoller die Meldungen aus aller Welt. Und die Horoskope. Er ließ den Krieg nicht eindringen. Im Gegenteil, er warf ihn heraus. Natürlich lachte man über ihn. Aber man schätzte ihn trotzdem. Für die Konsequenz, mit der er es schaffte, die dramatischen Veränderungen der Welt zu leugnen.
    Nadja ging am nächsten Tag aus der Wohnung, durchs Treppenhaus, durch den Vordereingang, nahm den Hofeingang daneben, öffnete die Tür zum Seitenflügel, stand vor der Tür zu der Wohnung, die das Morsezeichen-Fenster enthielt, und klingelte. Sie fühlte sich stark, in ihren Konturen, resolut und geerdet. Es öffnete niemand.
    Sie ging an allen folgenden Tagen in den Hof, sie registrierte die Menschen, zahlreiche, die aus der Seitenflügeltür herauskamen, aus dem Nebeneingang dieser Bühne. Das Rätsel des Stücks, das dort gespielt wurde, würde sie entziffern. Immer andere Gesichter, fast ausschließlich Männer. Junge, alte. Sie begann, das Treppenhaus zu fegen, von oben hinunter und ausführlich zwischen erstem Stockwerk und Parterre, sie fegte noch hinunter in den Keller und beobachtete so immer ein bißchen besser, wer aus der Wohnung mit dem Fenster kam oder in sie zurückging, einmal vergaß sie darüber, die Kinder zum Mittagessen einzusammeln, einmal wurde sie vom Blockwart bemerkt, der sich über ihr Fegen wunderte – sie deutete mit einer Hand auf ihr Ohr und machte eine Geste in der Nähe ihres Mundes, die ihn daranerinnern sollte, daß sie stumm und taub sei und ihm keine Antwort geben könne, er zog von dannen.
    Am nächsten Tag sprach sie einen Mann an, der gerade aus der Tür getreten war. Sie gab ihm aus einem Impuls der Verbundenheit die Hand. Er erwiderte ihre Freundlichkeit irritiert.
    »Darf ich Sie etwas fragen?« fragte sie leise und in dem akzentfreiesten Deutsch, das ihr möglich war. »Was wollen Sie uns mit dem Licht sagen?«
    »Bitte?«
    »Die Zeichen.«
    Er lächelte, wie man hilflos einem Kind zulächelt, das eine Frage gestellt hat, zu der sich eine ehrliche Antwort nicht schickt.
    »Sie wissen schon, mehr kann ich nicht sagen«, insistierte sie.
    Er zuckte mit den Schultern, die Entschuldigung in der Geste zeigte ihr, daß er begann, sich in ihrer Nähe unwohl zu fühlen.
    »Keine Ahnung, meine Dame, hier wohnen ein Dutzend Arbeiter in zwei Zimmern, was stört Sie am Licht?« Er ging. Das Hoftor fiel ins Schloß.
    Ihre Konturiertheit verflüchtigte sich, das Fragile ihrer Inszenierung trat überdeutlich zutage, so, daß ihr einen Moment lang der Boden unter den Füßen schwankte. Sie schlich hoch in Herrn Wenigers Wohnung und vernichtete alle Morsezeichen-Notate im Küchenofen. Das Papier begann an den Rändern zu schwelen, schwarz fraß sich die Hitze vor, mit orangeglühenden Rändern, beides ähnelte ihrem Widerwillen, die Welt als zufälligen Zusammenhang zu sehen, als nackte Realität ohne Hintergrund, Tiefe, ohne ein Mehr an Sinn. Sie wollte ihren Glauben nicht verglühen lassen, nicht die Hoffnung aufgeben, daß dies alles nur ein Teil eines größeren Planes war, der sie auf die Probe stellte, aber Erfahrungen barg, die sich irgendwann einlösen ließen. Sie verweigerte sich der Trostlosigkeit des Mattgraus, zu dem das verbrannte Papier sich

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