Das Glück der Zikaden
offen war sein Ausdruck. Er hatte den Schmerz, seine Trauer in sich eingeschlossen, irgendwo vergraben, worin auch immer.
»Ihr habt kapituliert. Geh da hoch und zeig es uns noch einmal. Ich will den Moment in Erinnerung behalten.«
Er setzte sich zu den anderen dreien an einen der vordersten Tische, nahe des erhöhten Teil des Raumes. Sie sah die dreistufige Treppe, seitlich dort hoch. Der schwarze Lack, das Holz darunter. Den Mantel umlegen, den Tod akzeptieren. Fünf, sechs Männer kamen auf sie zu. Sie wich vor ihnen zurück, die Treppe hoch, unhörbar erst, dann Absatz aufs Holz, sie ging quer über dieses abgezirkelte Feld, auf einen weiter hinten stehenden Barhocker zu, sie spürte die Blicke, sie ging aufrecht durch sie hindurch. Sie setzte jeden Schritt, als läge die wahre Gefahr darin, zu stolpern. Sie knallte die drei Füße des Barhockers auf den Boden, hielt seine Sitzfläche fest. Sie schaute von hier oben hinunter. Kein großer Unterschied. Einige Lampen über den Tischen flackerten auf, über ihr ging eine Röhre an, schräg hinter ihr auch, die vorderen kaputt. Den kurzen Moment eines unverhofften Triumphes. Dieses Licht würde die Männer blenden und sie hier zur Silhouette machen. Eine dunkle Schablone, mehr nicht.
Nahe am Stuhl, das war alles, was war. Sie atmete aus, sie hörte ihren Atem. Lachen von unten, Rufe, der Junge und der Silbenschleifer, die sie genau sehen konnte, ausgeleuchtetund hellgesichtig. Der Junge zog einen Stiefel aus und rief dabei was, ein Knall, und der Stiefel landete vor ihr auf dem Holz. Sie hob ihn auf, die Männer lachten, sie hielt ihn in der Hand, drückte ihn und sagte: »Mein Sohn würde das nie machen.«
»Wir weinen gleich«, rief einer.
Worte, weitere Namen, die ihr nichts anhaben konnten. Im Mantel. Der Tod. Das Spiel. Sie atmete ein, ließ die Luft bis zum Zwerchfell sinken, erinnerte sich des ersten Tons der neuen Hymne. Aufrecht neben dem Barhocker sang sie alle Strophen, das Lob auf den Staat, die Liebe zum Land, Stalins Huldigung sang sie und spürte, wie die Männer verstummten, einige sangen mit. Als sie zum Ende kam, wollte sie wieder von vorne beginnen, das ging nicht, das Klatschen der Männer schnitt ihr den Weg ab.
»Hemdchen aus«, rief einer.
Der Junge warf seinen zweiten Stiefel nach vorn. Er knallte gegen den Stuhl. Sie bückte sich, hob ihn auf. »Ich krieg zuerst eure Uniformen«, sagte sie, »und eure Orden dazu. Und gerne noch eure Waffen, ich hebe sie gut für euch auf.« Die Männer lachten. Die Namen. Was es alles für Namen gab.
»Zack, zack«, rief einer auf Deutsch.
»Die Deutsche meint uns auf Russisch Befehle zu verweigern«, rief einer gespielt aufgebracht.
Klatschen, etwas Gläsernes ging zu Bruch.
Sie spürte, wie langsam die Angst ihre Kräfte auffraß. Das Spiel. Der Mantel. Die Gleichgültigkeit. Eine Ohnmacht bei vollem Bewußtsein. Sie schloß die Augen und sang.
Sie hörte das Lachen. Den blankgescheuerten Hohn. »Noch einmal«, rief einer, ein paar fielen ein. »Aber endlich ohne alles.« Sie öffnete die Augen und suchte ein ganz bestimmtes Gesicht. Der Große lächelte, er genoß offenbar, seinen Willen bekommen zu haben. Sie suchte den Mantel, die Kälte, hielt die Soldatenstiefel fest. Sie sah, wie links einige aufstanden, in ihre Nähe kamen.
Sie war sich sicher gewesen, bis hierhin, doch, daß sie die Männer durchs Singen hätte bändigen können. Sie war der Hoffnung gefolgt, doch, fast naiv hatte sie geglaubt, es müßte möglich sein. Zwei Soldaten kamen zu ihr auf den erhöhten Teil des Raumes. Sie schob den Stuhl zwischen sich und die Männer. Der Große pfiff. Die Soldaten blieben in ihrer Nähe stehen, nur ihre Präsenz reichte aus, um Nadja den Funken Hoffnung, den sie noch gehabt hatte, zu nehmen. Sie drehte sich weg. Sie öffnete sehr langsam den Reißverschluß an der Seite ihres Kleides, vorne die Knopfleiste am Halsausschnitt. Das Licht traf ihre Schultern, es kühlte ihre Haut mehr, als daß es sie wärmte, der Stoff des Kleides rutschte an ihr hinunter. Sie stieg heraus, hob das nutzlose Etwas hoch, faltete und legte es auf den Barhocker. Ihr Unterkleid, den rechten Strumpf, die Strumpfhalter baumelten, die Dürre, ihre Haut. Das Johlen der Ausgeleuchteten unten drang nicht durch das Rauschen in ihren Ohren. Sie löste den linken Strumpf aus den Verschlüssen, er rutschte zuletzt von allein hinunter. Sie zog ihre Schuhe aus, die Strümpfe über die Zehen und steckte die nackten Beine in
Weitere Kostenlose Bücher