Das Glück der Zikaden
gehört, die soviel reden.« Anton war erleichtert, die Ansprache an seinen Sohn hatte gegen das Zittern, das seinen ganzen Körper erfaßt hatte, geholfen.
»Aber – kommen die Russen jetzt?« Sein Sohn schaute an die Decke.
»Peter, mein Schatz«, begann Anton liebevoll und mit Nachdruck, weil er sich selbst überzeugen mußte, »sie kommen, aber wir gehören zu ihnen, und deshalb werden sie uns nichts tun.«
Sie betraten den Keller, ohne daß jemand sie bemerkt hatte. Sie standen im Dunkeln, der größte unter ihnen mußte den Kopf einziehen, um nicht an die Decke zu stoßen. Es waren vier, vielleicht auch fünf, Nadja konnte es nicht erkennen. Ihre Taschenlampen blendeten. Sie starrte ins weiße Licht und hörte, wie sie untereinander witzelten. Einer nuschelte in einem Dialekt, den sie nicht erkannte, einer redete klares Russisch, benutzte aber Wörter, die sie um nichts in der Welt verstehen wollte. Nadja löste in einer unendlich langsamen Bewegung die Decke von ihren Knien und zog sie den schlafenden Kindern übers Gesicht. Sie wagte nicht, ihren Blick aus dem Weiß abzuwenden, nur um zu prüfen, ob die Kinder weiterschliefen. Sie suchte mit einer Hand nach Peters Rücken, folgte seinem gleichmäßigen, ruhigen Atem. Sie spürte, wie eine andere Hand nach ihrer griff, sich an sie klammerte, ihr Handgelenk umklammerte, es war Sentas Mädchenhand, schweißnaß und eiskalt.
Sie starrte ins Licht und wußte. Einer hatte es gesagt, da, in der Mitte. Ein kleines Zucken des Lichts als Beweis. Ihr Handgelenk umklammert, sie spürte ihren rasenden Puls darin. Der ruhige Atem von Peter. Sie wand sich aus dem Griff, hörte Sentas stimmlosen Schrei, spürte Peters sofortiges Aufwachen, kroch fort von ihren Kindern, richtete sich auf und ging auf das Weiß zu. »Kommt endlich mit«, befahl sie auf Russisch.
Sie ging in den Gang, der zur Treppe hochführte, im Licht der Petroleumlampe, die dort brannte, sah sie, daß vier Männer ihr folgten. Sie sagte: »Dort ist nichts mehr von dem, was ihr sucht.«
»Was suchen wir denn?« fragte der, der die Taschenlampe hielt, es war der mit dem klaren Russisch.
»Mich«, sagte Nadja.
»Hör auf, so zu tun als ob«, sagte der blonde Junge, der hinter dem Großen stand.
»Hör auf, so mit mir zu reden«, sagte Nadja mit einer Stimme, die ihr selbst fremd geworden war. Eine Stimme, die fest war, formuliert bis zur letzten Silbe, den abschließenden Konsonanten eines Wortes betonte, die gehört wurde, bis weit in die hinteren Reihen. Die keine Angst zuließ.
»Ah«, raunte der Junge, »dir vergeht noch dein Lügenmaul.«
Sie wagte es nicht, den Männern den Rücken zuzudrehen, sie ging seitwärts die Treppe hoch, prüfend, daß keiner zurückblieb.
Man konnte den Tod spielen, wie man ihn auf der Bühne starb. Man konnte ihn akzeptieren, seine Kälte, den Griff des Nichts. Man konnte ihn aushalten, weil er es nicht wirklich war, man warf ihm eine Hülle zu Füßen und nahm es als Spiel.
Noch nie hatte sie so deutlich das rauhe Eisen des Handlaufs gespürt, die muffige Feuchte der Wand. Die Frische der Nachtluft, die Stille, kein Kriegsgeräusch. Nur das Rascheln der Wolle, das Knirschen der Sohlen, die Schwärzedes Ausschnitts oben über ihnen. Ein klarer Mainachthimmel. Kein Alarm, keine Schüsse, kein Grollen. Noch nie hatte sie so in die Gesichter von Fremden geschaut, jedes Detail gesehen und gewußt, daß es sich unter die Haut schrieb, stanzte, verbleute. Haß, Kälte, Wut, Scham, wieder Haß, Rachsucht, Selbstbehauptung, Angst und noch mal Angst. Und dann das Schlimmste von allem, vollkommene Gleichgültigkeit.
Es blieben vier.
Vier, dachte sie, vier werde ich überleben. Und spürte im gleichen Moment, daß sie nur eine Chance hatte. Wenn auch sie eine Hülle hinwarf, Gleichgültigkeit.
»Was machst du hier?«
»Was kann sie mehr als lügen.«
»Ich sag euch eins«, sagte sie hart, »ihr seid halb so alt wie ich, und ihr nennt mich nicht Lügnerin.«
Der Großgewachsene grinste, er trat jetzt in den Vordergrund. Alle vier gingen auf sie zu. Sie wich zurück. Er war der Ranghöchste. »Wie sollen wir dich nennen?«
»Mütterchen Rußland?« der Junge lachte laut.
»Verräterin.«
»Ja. Verräterin.«
All die Namen, die ihr nichts anhaben konnten.
Sie griff nach ihrem Kopftuch, zog es herunter. Sie folgte der Einbildung, daß in den Sohlen ihrer Schuhe Platten aus Eisen lagen, Magnete, die sie mit dem Boden verbanden. Sie hob das Kinn, unmerklich für jeden,
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