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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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wandelte, von den Flammen überdeckt. Wie es zuletzt einen seltsam eleganten Tanz vollführte, bevor alles zu grauweißem Staub zerfiel.
    Die Zeitungen meldeten Erfolg nach Erfolg, selbst eine Stagnation wurde in Gewinn umgedeutet, und überall herrschte der Ton ungebrochenen Hochmuts. Schließlich kam der Angriff, von dem Anton so überzeugt gewesen war, daß er nicht kommen würde, dann der ganze Krieg, den er so beharrlich ignoriert hatte. Er führte zum wiederholten Mal sein Kinderlähmungsbein an, das ihn zu einem langsamen Zeitgenossen machte, und es wurde befunden, daß er vor Ort bleiben dürfe.
    Obwohl es noch abstrakte Meldungen waren, weit außerhalb ihres täglichen Lebens, traf Nadja jede Nachricht ins Herz. Sie fror, und keine noch so dicke Kleidung konnte etwas gegen dieses Zittern tun. Es kam der Winter, er brach über die Front ein, er half den Russen, denn er steckte ihnen im Blut. Es dauerte unvorstellbar lange, bis der Frühling kam.
    Tante Ingje schrieb im darauffolgenden Herbst ein Telegramm an Anton, es erreichte ihn in der Redaktion. Darauf stand: ›Alles kaputt.‹ Er fühlte sich sofort schuldig, direkt verantwortlich. Am Abend wagte er sich zu Ingjes Haus, ihrer alten Bleibe, am Platz. Das Haus war halbseitig getroffen, auf der Seite des Antiquariats. Zwischen dem Schutt, den Holzbalken, dem Stroh und den Steinen lagen Rudolfs Noten wie letzte Friedensfähnchen, weiße Rechtecke im Schwarz und Rotbraun, die über die Schuttberge flogen, in die Ritzen segelten, liegenblieben.
    Die Seite des Hauses, in die sich die Wohnung erstreckte,stand noch. Ingjes Wohnzimmer, ein offener Rachen, nur die Anrichte mit den Sammeltassen war in den Abgrund gestürzt. Die Sitzgarnitur, zugedeckt vom Staub, das Landschaftsbild darüber hing schief. Tante Ingje weinte nicht. Sie wirkte versteinert, kerzengerade, die Strickjacke fest geschlossen unter den verschränkten Armen, und sie sagte kein Wort. Sie ließ sich von Anton, ihrem Neffen, nicht in den Arm nehmen. Sie betrachtete nur von der Straße aus ihr klaffendes Wohnzimmer, sie schien das verschwundene Geschäft keines Blickes zu würdigen. »Du kommst jetzt mit zu uns«, sagte Anton.
    »Nur über meine Leiche.«
    »Ihr seid solche Dickschädel«, entfuhr es Anton.
    »Ich teile mit einem Feind kein Zimmer«, gab Ingje zurück. »Sie ist dafür verantwortlich, daß das Unheil aufs Haus gefallen ist. Mit ihrem Götzenbild hat sie es angelockt.«
    Anton verstand nicht ganz. »Du kommst jetzt mit.«
    »Ich wußte es«, überging Ingje ihn, »ich wußte, daß das passieren würde. Seit ich ihn zwischen meinem Hutschenreuther entdeckt hatte.«
    Sie zog ihren Arm aus seinem Griff, raffte ihren Rock und stieg über den Schutt zurück in ihr Wohnzimmer. Einige Notenblätter flogen auf.
    »Da willst du jetzt wohnen?« rief ihr Anton hinterher.
    Sie stapfte weiter, drehte sich erst an der Tür zum Flur noch einmal um. Beide ahnten nicht, daß es das letzte Mal war, daß sie sich sehen sollten. Er hob eine Hand zum Gruß. Sie schaute nur von ihrem offenen Hochparterre zu ihm hinunter und verschwand dann mit von Stolz beschwerten Schultern im Durchgang der Tür.
    Er ging jeden Tag weiter in die Redaktion. Als die Straßenbahn nicht mehr fuhr, ging er zu Fuß, was eine Stunde hin und eine Stunde zurück in Anspruch nahm, wenn Fliegeralarm kam, brauchte er manchmal mehr als den halben Tag und schlich erst nachts in der Dunkelheit zurück. Die Schule der Kinder war längst nach Süden emigriert, Nadja hatte Senta und Peter nicht mitgehen lassen. Sie trug ihren Sohn auf dem Arm in den Keller des Hauses, Senta durfte die Hand nicht vom Band ihrer Schürze nehmen, der Blockwart organisierte mit schneidender Stimme. Seit einiger Zeit empfand Nadja seinen Befehlston, seinen runden, soliden Kopf, die zusammengekniffenen Augen unter den fliehenden Augenbrauen als beruhigend.
    Sie hatte sich einen Platz in der Nähe eines gemauerten Quaders im Zentrum des Kellers gesichert. Hinter dieser Wand verliefen die Rohre, der Schornstein. Zwei Matratzen hatte sie hingetragen, Decken, Kerzen, eine Petroleumlampe. Oft war sie dort mit den Kindern allein, Anton blieb im Luftschutzkeller der Redaktion. Sie hatte zu beten begonnen, seit die Luftangriffe über sie einbrachen, das ferne Beben der Erde und der Luft. Es kam alles näher, immer näher, bis es ganz nah war. Das Beben war in den Wänden, die sie umgaben. Sie betete, vielleicht nicht im üblichen Sinne. Sie rief im Stillen einen Gott

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