Das Glück der Zikaden
aber sie hob es. Der Junge und der Silbenschleifer lachten weiter und riefen ihre Namen. »Du graue, alte Frau«, war einer, den sie wahrnahm. Der Harmloseste, der sie als einziger traf.
Sie lachten, fluchten und machten sich Zigaretten an.
Der Große hob die Hand, aber es passierte nichts. Der Junge stob hinter ihm hervor und griff nach Nadjas Arm. Der Große griff nach dem Jungen und riß ihn zurück.
Sie standen sich wieder gegenüber. Sie bat mit ausgestreckter Hand nach etwas zum Rauchen.
»Los, endlich los«, sagte der Silbenschleifer.
»Ja«, sagte der Junge.
»Nein«, sagte der Große, »raus hier, raus.«
Sie saß auf dem Rücksitz des Militärautos, eingeklemmt zwischen dem Silbenschleifer und dem Jungen. Der unscheinbare Vierte, der sich bis jetzt nicht hervorgetan hatte – dunkelblond mit etwas Kindlich-Erschrockenem im Gesicht, er saß vorne neben dem Großen. Eine Straße, auf der sie fahren konnten, gab es nicht, nur eine Rinne mit Bodenlöchern, etwas Katzenkopf, etwas freiliegender Sand. Soldaten, Geweh re geschultert. Menschen, wie Schatten. Häuser und Reste. Sie wollte Anton im Keller sitzend wissen, bei den Kindern wissen, sie wollte sie gemeinsam im Keller sitzend wissen, sie nahm das Bild, das sie davon hatte, als Realität.
Sie spürte eine Hand, die des Jungen, unter ihrem Rock, sie roch das immer gleiche Brennen im Atem des Silbenschleifers. Er reichte die Flasche reihum, sie gab sie zum Jungen weiter, und als sie das tat, zog sie zugleich seine Hand zwischen ihren Schenkeln hervor. Der Wagen hielt. Der Große drehte sich um und sagte zum Jungen: »Nach vorne!« Der Junge zuckte zusammen, stieg aus, umrundete das Auto, wartete, bis der Erschrockene den Platz geräumt hatte, und setzte sich, ohne einen Mucks zu tun. Der Erschrockene rutschte neben Nadja.
»Danke«, sagte sie fast tonlos nach vorne.
Die Erschöpfung, die nach der Angst kommt. Wenn sie zu lange währt.
Eine gespenstische Ruhe, das drang zu ihr durch. Ein weißes Laken, ein Fensterbrett, ein abgenagtes Tor, der Sandstein weich, ein schwarzer Fluß, eine Brüstung ohne Geländer, ein ausgebranntes Fahrzeugwrack. Noch weitere Laken,weiße Zungen, schwarze Rachen. Soldaten und ihre Gewehre, nicht im Anschlag. Auf den Rücken. Ein alter Mann, mit zwei Kindern, der panische Blick. Ihre Hüfte an der des Erschrockenen, die Knochen unter dem Fleisch, die Stöße des Autos, der magenbittere Atem, das Weiße der Hand am Haltegriff, schwarzgefurchte Fingernägel. Ein sehniger Hals, ein ausrasierter Nacken, die Gradlinigkeit eines Schulterstücks, wie präzis und schön die Naht.
Nicht durch die Hülle der Gleichgültigkeit stoßen, so hielt sie sich knapp unter der Oberfläche auf. Die Hülle, der Mantel. Den Tod spielen, nur spielen, dann überlebte man ihn.
Der Wagen hielt an, und die vier Männer stiegen aus. Sie sah sich, flankiert von allen vieren, einen Torbogen durchschreitend, einen Hinterhof querend, durch eine Tür gehend. Die Glasfenster waren herausgesprungen. Ein Durchgang, ein weiterer Torbogen, eine doppelte Tür, ein Filzvorhang. Der Griff eines Mannes am Oberarm, eine Hand schob sie am Rücken voran.
Sie drückte sich in den Filz, sie umklammerte den Stoff, sie wurde weitergeschoben, sie spürte den rauhen Widerstand, das Borstige des Vorhangs, sie behielt das Gefühl in den Händen und war wieder wach. Ihr Herzschlag, die Kälte. Der Mantel. Hier. Ein langgestreckter Raum mit Tischen, Stühlen, Holz an den Wänden, wenig Licht, eine Art Kantine, seitlich ein Bereich leicht erhöht.
»Ihr wolltet uns besiegen«, sagte der Große ruhig, während er sie in den Raum schob. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut sich das anfühlt, euch als Matschflecken zu sehen. Wenn ihr noch ein Fünkchen Würde habt, weg damit. Nur ein Idiot fängt ein Kräftemessen mit uns an. Zieh dich aus.«
Nadja blieb stehen. Sie schaute ihn an, diesem Gesicht hatte sie noch das meiste Vertrauen geschenkt. Sie war auf ihn reingefallen. Sie war zu dumm für die Logik des Krieges,immer wieder zu dumm für die Macht der Männer und ihren Genuß daran, einen Schwächeren zu demütigen. Sie hatte gedacht, es sei zu schaffen, das Spiel.
»Sag mir nicht, was unser Stolz ist«, sie betonte jedes Wort, das Russische, seinen weichen Klang, »wenn du hier gewinnst, dann nur, weil ich eine Frau bin.«
Sein Gesicht. Kein Hohn, keine Ablehnung, nichts. Keine Rache. Kein Gelüst. Er war glatt und unentschlüsselbar. Eigentlich freundlich, fast
Weitere Kostenlose Bücher