Das Glück der Zikaden
die Stiefel des Jungen. Die Zehen am Leder, die Festigkeit, der Stand. Sie hielt sich mit einer Hand am Holz der Sitzfläche fest, die drei Beine des Barhockers, er stand und hielt sie fest.
Irgendwann begann sie, gegen das Rauschen anzusingen, mehr noch, um den Raum ihrer Illusion am Leben zu halten, und sie sang für den Großen, der nach vorn gebeugt auf dem Fauteuil saß, die Ellenbogen auf den Knien, die Hände gefaltet, als spreche er nachlässig so etwas wie ein Gebet. Sein Gesicht erhellt vom Licht. Sie sang in seine Zufriedenheit. Inseine Macht, in das Staunen, den Sieg. Sie sang für ihn, in seinen seligen Ernst, für seinen Triumph. Sie sang ein russisches Lied, von dem sie nicht wußte, warum sie es jetzt gerade erinnerte: ›Und dann wird es wohl so sein, daß die Wolken plötzlich tanzen und eine Fliege auf der Geige zu klimpern anfängt. Ein Fluß entspringt aus einem blauen Bach, und Freundschaft, ja Freundschaft beginnt mit einem Lächeln.‹ Die Männer johlten, sie feuerten sie an. Der Große bewegte sich nicht. Sie schloß die Augen. Sie suchte die Kälte, etwas, das hinter der Scham lag. Ihr fiel nichts anderes mehr ein, sie sang: ›Das Glück der Zikaden ist, daß sie stumme Weiber haben, sie liegen in der Sonne und schnarchen dann und wann, und wenn sie wieder wach sind, dann schreien sie was geht, und wenn sie nicht mehr schreien, dann fallen sie ins Beet.‹ Das Klatschen, das Lachen, noch eine Strophe, noch ein Refrain, sie wußte, sie würde nicht bis ans Ende aller Tage singen können.
»Ich will eine Jacke«, sagte sie, »für ein Soldatenlied.«
Das Ding flog ihr entgegen. Als sie es aufhob, sah sie im Gesicht des Großen kurz das gezwungene Lächeln eines Befehlshabers, der sich übergangen fühlte. Sie zog die Jacke an, den festen Stoff, das körperwarme Futter.
Sie wollte ihre Kinder im Keller schlafend wissen, sie wollte ihren Mann unverletzt heimgekehrt wissen. Sie wollte ihre Wohnung in Moskau, die Bühne unbetreten wissen. Sie wollte vergessen, was sie war und sein würde, sie wollte grau sein wie ihre Haare, sie wollte die Scham nicht mehr spüren, sie wollte alles nicht mehr spüren, sie wollte nur noch die eine Sekunde sein, die kam und ging. Sie drehte sich um, zog die Uniformjacke aus, dann ihr Unterkleid, ihre Unterwäsche, zog sich die Uniformjacke wieder an und drehte sich den Männern zu.
»Wozu«, sagte sie leise. Man könne ihr auch die Kehle durchschneiden, das meinte sie zu hören.
Sie öffnete die Uniform, zog die Aufschläge auseinander, breitete die Stutzflügel aus und stand einfach nur da. Sie schloß die Augen und spürte die Blicke. Sie biß die Zähne zusammen. Sie biß ohne Schmerz. Der Schmerz war verschwunden, nur die Kälte unter der Haut, sie schaffte es, länger als sie dachte, in einer willenlosen Gleichgültigkeit. Dann schloß sie die Uniform und öffnete die Augen.
Der Große stand auf. Er machte zwei, drei Schritte auf sie zu.
»Das Lied, das die versprochen hat«, kam es aus den Reihen.
Er blieb stehen, strich sich vom Kinn abwärts über den Hals. »Wollt ihr das noch hören?« fragte er in den Raum, ohne Nadja aus den Augen zu lassen.
Sie spürte, daß ihr eine Seite des Aufschlags aus den Händen rutschte, sie faßte nach und wickelte sich ein. Sie hielt den Filz eng am Körper, sie wußte, er war zu kurz. Sie schloß die Augen und begann das Lied. Die Trommlerin. Auf Deutsch, ›Ein Uhrwerk trage ich in mir inwendig, wer nach mir schießt, der schießt mich gar nicht tot, im Gegenteil, der schießt mich nur lebendig, kein Blut färbt meines Mörders Hände rot ...‹ Sie begann auf Russisch, Ottos Übersetzung von einst: ›Wer mich getroffen, dem wird automatisch, mein lustig Trommeln seinen Schuß quittiern, so mancher Herr kann hier so mancher Dame fürn ganzen Abend billig imponiern. Starr steh ich da und lächle süß wie Gift. Bis eine Kugel mich ins Herze trifft. Ein Schuß zehn Pfennig, drei Schuß fünfundzwanzig Pfennig, na? Wer will noch mal. Na? Wer schießt noch mal ...‹
Ein Pfiff. Der Große. Er pfiff sie weg. Sie preßte ihre Kleidung an sich, ihre Schuhe, ging zu den Stufen, alles vor sich gepreßt, blieb nah an der Wand, zog sich notdürftig an.
Der Große stand am anderen Ende des Raumes, dort, wo sie reingekommen waren. Sie ging auf den Eingang zu, wollte den Filzstoff, der die Tür schützte, zog mit einer Kraft, die sie selbst erstaunte, den mürben Stoff aus den Haken, wickelte sich den Filz um die
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