Das Glück der Zikaden
am falschen Ort, man ist überwältigt vom Gefühl der Peinlichkeit, mehr der Scham. Man schämt sich in Grund und Boden, so falsch zu sein, hier mitten auf der Straße, statt im Bett, im Bad, im Banja. Aber man ist so falsch, daß man gar nichts mehr machen kann, und geht wirklich im Traum immer weiter die Straße hinunter, statt schleunigst zu verschwinden. Diese rätselhafte Beharrlichkeit irritiert mich, sie ist wie ein Zweifel, eine Schabe, die durch die Ritzen flitzt, meinen Glauben unterwandern will.‹
›Liebe Nadja‹, schrieb er in ungeahnter Vertrauenswürdigkeit zurück, ›ich verstehe, denke ich, sehr genau, was Sie meinen. Auch ich bin von den Menschen, von denen ich dachte, daß ich zu ihnen gehöre, von gebildeten, tiefgründigen, besonnenen Menschen aus meinem Paradies geworfen worden. Wir beide haben keine Heimat mehr, aber Ihnen wurde sie im doppelten Sinn geraubt. Warum liegt Herr Stalin trotzdem noch in meinem Klavier?‹
›Ja, lieber Samuel‹, schrieb sie daraufhin mit der gleichen frechen Leutseligkeit einige Wochen später zurück, ›Herr Stalin liegt dort, dämmert, schläft, wacht und horcht, warum? Weil ich auf ihn nichts kommen lasse, auf ihn nicht. Ich bin Russin. Natürlich weiß ich, daß viele der Einfachheit halber sich wieder an unseren Puschkin halten, an unseren geliebten Tolstoi, an Gorkij, an all unsere wunderbaren Dichter, die wir so verehren wie kein anderes Volk, weil sie unsere Sprache sprechen. Mir aber steht er über meinen Dichtern, doch wie ein Vater, dessen Autorität man nicht in Frage stellt, denn dann stellt man sich doch letzten Endes nur selbst in Frage. Ich kann ihn mir nicht rausreißen, wie man sich ja seine Väter und Vorväter auch nicht rausreißen kann. Das sollte Ihnen eine Lehre sein, falls Sie versuchen, Amerikaner zu werden. So nennt man hier, wenn es Sie interessiert, ein Gebäck, das einer dicken Oblate ähnelt und aus Butterteig ist, zu süß, so daß man viel Wasser hinterhertrinken und sich die Finger ablecken muß, um die Zuckerglasur, die oben aufgeschmiert wird, wieder loszuwerden. Eine klebrige Angelegenheit, aber während man sie ißt, fühlt man sich satt und glücklich. Danach nicht mehr, mit freundlichen Grüßen vom Biedermeiersofa, Ihre Nadja.‹
Er antwortete mit einem Brief, den sie mehr als einmal las: ›Es ist ein Reichtum‹, schrieb er nach einem eher lakonischen Lagebericht über eine Wiederkehr nach Ellis Island, wo er einen entfernten Bekannten abholen wollte, der aber zwischenzeitlich die Passage gewechselt und nicht in New York, sondern in Valparaíso, Chile, an Land gegangen war –, er schrieb, ›Ich meine, Nadja, es ist ein Reichtum, an etwas zu glauben, eine Haltung zu haben. Wer keinen Glauben mehr hat, ist der noch ein Mensch? Ist es nicht gerade unsere Fähigkeit, uns immer wieder Illusionen zu machen (und ein Glaube ist ja viel mehr als Illusion), die uns voranbringt. Seies, der Glaube daran, daß es ein Leben nach diesem gibt, die ewige Wiederkehr, ich will doch ein besserer Mensch werden, wenn ich daran glaube. Welchen Grund gibt es sonst, zu reifen, ein erwachsener, ganz geborener Mensch zu werden? Aus welcher Kraft kann ich schöpfen, wenn ich keinen Glauben mehr habe? Hier glauben die Menschen an ihr Durchhaltevermögen, das sich aus dem Auserwähltsein speist, an ihre Chance, die sie bekommen haben, an die Freiheit, die darin steckt, das eigene Leben gänzlich gestalten zu können. Es in der Hand zu haben. Es sind alles Handwerker, sie meistern ihr Leben mit ihren Händen. Selbst die Kopfarbeiter verstehen sich so. Und selbst, wenn der Glaube falsch, die Hoffnung blind oder größenwahnsinnig ist, sie ändert etwas, und das ist doch das Wunderbare an ihr. Ihr Freund Samuel Weniger.‹
Nadja sah das Pferd vor sich, wie es durchs Eis brach und versank. Am Boden ankam, dank der warmen Quelle dort unten nach oben schwamm, erfrischt vom Bad an der Oberfläche auftauchte, aus dem Eis stieg, sich schüttelte, kastanienbraun und muskulös auf dem Weiß stand. Sie ahnte, daß sie die Kraft dieses Pferdes hatte, sein Herz. Und sie ahnte, daß sie selbst den Winter um sich herumschnürte und festhielt. So war es leicht, Anton verantwortlich zu machen für sein kühles Abwenden, seine Unnahbarkeit, statt jeden Tag wieder zu sehen, daß sie selbst es war, die ihr beider Festfrieren am lebendigen Leib forcierte.
Sie schrieb an Herrn Weniger: ›Lieber Samuel, ich kenne Sie durch Ihre Möbel, Bilder, Küchenutensilien,
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