Das Glück der Zikaden
Schultern. Darunter zog sie den Rest ihrer Kleidung an. Sie sah den Großen an der Tür stehen, sie ging an ihm vorbei. Aufrecht, das wollte sie sein, so wollte sie gehen. Er hielt sie fest.
»Du hast uns prächtig unterhalten.«
Er strich sich über das Kinn, sie sah einen Augenblick seine Zähne, er schloß den Mund, er schaute sie an und grinste. Sie wickelte sich in den Filz ein, hielt ihn fest mit beiden Händen zusammen.
»Ein Hoch auf den Genossen Stalin«, sagte sie und schob sich an dem Spalt, den er ihr ließ, vorbei nach draußen. Er griff nach ihr, zog sie durch die Tür. Sie riß sich los, er bekam sie wieder zu fassen, mehr den Filz als ihren Körper, sie wand sich aus seinem Griff, er war schneller, sie stolperte, fiel, rappelte sich auf, er stieß sie wieder auf den Boden, war über ihr, nur eine Sekunde sah sie sein weißes, seltsam konzentriertes Gesicht, und etwas Ursprüngliches brach aus ihr heraus, sie wollte diese Glätte, diese Macht, und sie wollte sie kaputtmachen. Ihre Hand schmerzte vom Schlag. Überrascht zog er den Kopf zurück, sie schrie in sein Gesicht, sie schrie all die Wörter, die sie gehört hatte, mit Verwunderung nahm sie wahr, daß er sich nicht mehr bewegte, fast schien es, als kehre dieses geschlossene, freundliche Grinsen zurück, vielleicht hatte er jetzt erst verstanden, daß sie wirklich keine Deutsche war, wenn sie auf Russisch fluchte. Er ließ sie nicht los, hielt sie aber auch nicht mehr fest, sie kroch zur Seite, unterm Filzvorhang durch, befreite sich aus dem Stoff und rannte, als sie merkte, daß sie Boden unter den Füßen hatte.
Mit Seitenstechen ging sie durch die Morgendämmerung, alles in ein entrücktes Licht getaucht. Die Stadt um sie herum war ein zertrümmertes Gebiß, ein Mund, der nichts mehr sagen konnte.
Es war nichts passiert, und wer etwas anderes behauptete, lag falsch mit seiner Annahme.
Wenn ihre Kinder unverletzt waren, wenn Anton zurückgekehrt war, dann war alles wie vorher, dann dankte sie dem einen, der seine Männer im Griff hatte, der sie letzten Endes doch im Griff hatte, anständige Männer, der Rest war Schweigen.
Die Kinder lagen im Keller unter den Wolldecken, Anton vor ihnen, als schirmte er sie ab. Er wachte auf, als Nadja sich auf den Rand der Matratze kniete. Er suchte etwas in ihrem Gesicht, sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf.
»Die Russen haben gewonnen«, sagte er leise.
»Wir haben gewonnen«, sagte sie leise.
Peter drehte sich zuerst, das hagere, schmale Gesicht. Sie küßte ihren Sohn, dann ihre Tochter, auf die Stirn, auf die Haare, sie schmeckte den verschwitzten Geruch ihrer Kinder, sie vergrub ihr Gesicht zwischen den Köpfen ihrer Kinder, für die sie das alles gemacht hatte, für sie und ihre Kinder, für irgendeine ferne Zukunft. Sie spürte Antons Hände auf ihrem Rücken, aber sich selbst darunter nicht mehr.
D ie Währung schwoll an zu einem Knäuel nutzloser Scheine, die Schule begann, man schickte sie zum Nachsammeln auf die Äcker. Man holzte im Tiergarten, man tauschte was ging, man vergrub, was man nie mehr sehen wollte, man grub aus, was man noch irgendwo wähnte, man bewachte das Feuer, klopfte Steine und fror, hungerte und schlief eng beieinander auf schmalen Betten. Die Sowjetunion befahl die Blockade, die Westmächte erfanden die Luftbrücke, die Frankfurter Dokumente machten den Weg frei zur Gründung eines Staates. Man arbeitete das Grundgesetz aus. Die Männer in der Politik trugen wieder Bauch, die Frau von Welt ging eng tailliert und unten weit. Westdeutschland wurde zur Trizone vereinigt. Vier Jahre nach Kriegsende lag endlich das Grundgesetz vor, man entschied sich für Bonn statt für Kassel, Stuttgart oder Berlin. Die Blockade wurde beendet. Der Freistaat stimmte zu, obwohl er vielleicht lieber ein eigener Staat geworden wäre. An einem nur wenig bewölkten Maitag trat das Grundgesetz in Kraft. Die Bundesrepublik Deutschland war gegründet. Man sah Männer auf der Straße, die sich durch ihren Erfolg dazu verpflichtet fühlten, eine herablassende Hochnäsigkeit an den Tag zu legen. Die Möglichkeit, sich neu zu erfinden, die eindrucksvollste Fähigkeit eines menschlichen Wesens. In der Jugend ahnt keiner, was im Alter kommt und daß die räudigen Hunde einen verfolgen, wie nur ein Hund seinen Herrn verfolgen kann. Auf dem Gebiet der SowjetischenBesatzungszone wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet, und so teilte sich die Geschichte auf und lief auf zwei
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