Das Glück der Zikaden
separaten Wegen mehr oder weniger einen Hang hinunter.
Nadja saß auf Samuel Wenigers Biedermeiersofa, auf dem man nur mit kerzengeradem Rücken sitzen konnte, und thronte still im Mittelpunkt der Wohnung. Gerade war mal wieder ein Brief aus New York angekommen, er bat darin um Nachricht, endlich zu erfahren, wie es Ihnen ginge? Ob das Haus noch stehe? Sie hatte immer angenommen, daß Anton von der Redaktion aus Antworten aufsetzte. Daher verstand sie die Eindrücklichkeit der Nachfrage nicht. Sie öffnete ihr Chinaseiden-Buch, riß eine Seite heraus und schrieb: ›Lieber Herr Weniger, Ihre Wohnung steht, wie Sie sie in Erinnerung haben mögen, auch das Haus und die Nachbarhäuser, erst vorn an der Ecke Pfalzburger ist nichts wieder zum Aufbauen geeignet. Ich sitze auf Ihrem ungemütlichen Sofa, das wirklich nur schön anzuschauen ist. Alles an mir solidarisiert sich mit diesem Sofa. Ja, ansehen tut man mir nichts, ich habe mir sogar ein Baumwollkleid der neuesten Mode genäht, aber jenseits des Futters wird es ungemütlich. Gemütlichkeit, das ist vorbei, ohne daß ich sagen kann, ob ich jemals wußte, was das Wort zu bedeuten hat. Ich bin eine Flasche, deren Inhalt man getrunken hat, eine Flasche ohne Inhalt ist zu nichts zu gebrauchen, einziger Trost: Es scheint eine Menge leerer Flaschen um mich herum zu geben. Aber starke Charaktere zeigen sich nicht in der Masse, sondern trotz der Masse, sagte eine Frau, die es wissen mußte, ich wünschte, ich bekäme langsam eine Ahnung davon, wo und wie ich meine Flasche wieder auffüllen kann, auf Ihr Klavier hatte ich den Mann gestellt, der mir Hoffnung gibt, nur mußte ich ihn wegräumen, mein Mann schrieb mir das vor, es sei nicht diepassende Zeit, in den westlichen Besatzungszonen ein Bild von Stalin aufzustellen. Als ich mich weigerte, räumte er ihn schließlich selber weg. Ich stellte ihn wieder auf. So ging es einige Wochen. Bis ich beschloß, ihn ins Klavier zu legen, von dort aus gibt er mir auch die Kraft und das Wissen, auf der richtigen Seite zu sein, obwohl ich gerade auf der falschesten aller falschen Seiten sitze. Seine Anwesenheit beruhigt mich, meistens, diese Unruhe ist etwas, das wie ein Flohstich juckt, fängt man einmal an zu kratzen, dann gibt es kein Halten mehr, man kann den Stich aufkratzen, bis Blut kommt, aber auch davon hört er nicht auf. Und wer redet schon über seine Flohstiche? Man macht Spucke drauf und weiter geht’s. Also erzählen Sie mir lieber, was machen Sie in Amerika?‹
Sie las den Brief durch und zerriß ihn in Schnipsel.
Sie fing wochenlang keinen neuen an.
Dann schrieb sie, an einem feuchtkühlen Sommermorgen, der Himmel noch grau wie die Seitenflügelwand: ›Sie haben mir ein Zuhause gegeben, Herr Weniger, von Anfang an wußte ich es, der Geruch erinnerte mich an den Platz in meinem Leben, den ich hatte und den ich verlassen mußte, aber es ist eben nur eine Erinnerung, und in der läßt es sich nicht leben, könnte ja mal jemand erfinden, eine Maschinerie, die das möglich macht, macht aber, verdammt noch mal, keiner.‹
Sie überlegte, den Fluch durchzustreichen, schrieb aber dann weiter: ›Heute ist es mir in aller Klarheit wieder ins Bewußtsein gekommen, vielleicht, weil es draußen schon einige Tage lang so warm ist und ich nicht mehr den Eindruck habe, diese Wärme in mich aufnehmen zu können, nur, wenn ich auf dem Biedermeiersofa sitze und versuche, den Geruch wahrzunehmen, den vom Anfang, dann merke ich, daß ich irgendwann wieder die Kraft haben könnte, aufzustehen, den Teppich einzurollen, um die Dielen unter denFüßen zu haben. Ich habe mich nie dafür bedankt bei Ihnen.‹
Sie schrieb immer weiter, ohne nachzudenken füllte sie ein ums nächste Papier: ›Ich will die Enttäuschung nicht in mich eindringen lassen, ich werfe sie raus, die elende, langfingrige Enttäuschung, die mir alles rauben will. Die Geschichte geht voran, sagen die einen. Ich sage, der Sozialismus wird kommen und uns retten. Nur in ihm sind wir Gemeinschaft. Nur er öffnet die entscheidenden Türen in unserem Denken und Handeln, in unserem Fühlen, all das, was erst menschliches Zusammenleben möglich macht. Also Glück. Vor dem Schwarz breitet sich manchmal eine Erinnerung aus, falsche Bühne, sage ich dann, und schicke die Schauspieler fort. Kennen Sie diese Träume, die man mitunter hat? Man geht eine belebte Einkaufsstraße hinunter, überall Menschen, und man ist nackt oder nur im Oberteil des Pyjamas, und man weiß, man ist
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