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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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standen, oder einfach zwischen allen Seiten, mit ihren Schuldscheinen in der Hand, und man spielte Schach über sie hinweg und hatte die Züge längst vorausgeplant. Ob die Russen bald ihre Bomben ausprobierten, ob die Amerikaner. Er wollte ihr sagen: Bitte bleib bei mir.
    »Wir werden einen Urlaub machen. Privilegiert verreisen.«
    »Das letzte, was mich interessiert, ist ein Urlaub.«
    »Oder Moskau. Wie wäre das? Moskau oder in den Süden. Wo die Menschen glücklich sind.«
    Sie schaute ihn an, als wäre er verrückt geworden.
    Das erste Mal sah sie etwas, was sie nie zuvor gesehen hatte. Ein kleiner Zug nur, um seine Augen, um den Mund, etwas Opportunistisches, eine Haltlosigkeit, deren Grund seine Naivität sein konnte, oder aber auch das Gegenteil, Gleichgültigkeit. Er wich ihr aus, er machte einen Schritt zur Seite, er schloß die Tür des Schrankes. Sie wiederum griff nach der Klinke, zog die Zimmertür zu, beherrscht, fast sachte, undlegte sich in ihr Bett, im gegenüberliegenden Zimmer, das mit dem Kopfende nahe am Vorhang stand, so nah, daß sie ihn riechen konnte, den staubigen Stoff, der hier schon sonst wie viele Jahre hing, sonst wie viele Ehepaare und ihr rätselhaftes Beisammensein behütet hatte, sie zog ihn ein Stück weit zu sich herüber, sie hielt ihn fest, sie machte das, was sie seit dem Auszug aus Samuels Wohnung eigentlich immer machte, sie formulierte in Gedanken einen Brief an ihn. ›Lieber Samuel, ich weiß nicht genau, wie es passiert ist, aber ich nehme an, mein Mann hat Ihre Briefe gefunden. Vielleicht wollte ich auch, daß er sie findet. Er hat seine Schlüsse gezogen. Er hüllt sich in Schweigen. Ich werde nicht diejenige sein, die das Schweigen bricht. Er soll sagen, was er denkt, aber er weiß, glaube ich, gar nicht mehr, was er denkt. Er will nur immer, daß alles so bleibt, wie es ist. Er kann keine Veränderung ertragen. Seit unserem Weggang aus Moskau kann er das nicht mehr. Nur unter Zwang, und anscheinend bestand der Zwang jetzt für ihn wieder. Ich gehe mit, ich bin seine Ehefrau. Ich bin damals mitgegangen. Ich bin jetzt wieder mitgegangen. Warum habe ich nicht den Mut, allein zu gehen? Wo ist meine Kraft hin, mit der ich mir früher jeden Weg geebnet hatte? Ich weiß nicht, warum eine andere zitieren, aber sie fällt mir gerade ein, unsere Dichter sprechen für uns, dafür lieben wir sie: In deinem Blick ist der Veilchen Licht, sie sind des Todes voll. O wieviel mehr als ein Wort sagt der Schnee, der alle Zweige verschneit – siehe: der Vogelfänger am See. Hat schon die Netze bereit. Ich sehne mich nach Ihren Worten, nach Ihren zarten Fragen und Einsichten. Hab ich zuviel Zeit? Mein Mann ist so durch und durch Journalist geworden, vielleicht ist es das. Er hat angefangen, das zu glauben, was er schreibt. Es hat nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun. Er glaubt, er habe die Wirklichkeit im Griff, so wie er eine Meldung im Griff hat, 375 Zeichen, ein Absatz, etwas Ernstes, ein Schmunzeln und Punkt. Seinekleinen Vorhersagen. Er schreibt über den Venusmann und die Sonnenfrau. Er scheint ein rechter Fachmann für astrologische Prophezeiungen geworden zu sein. Er meint womöglich, er kontrolliere das Unkontrollierbare. Wenn eine Vorhersehung wahr wird, wie nährend ist dieser Schwall für sein wüstes Innenleben, für alle Gleichgültigkeit? Muß man dann nicht denken, man habe die Zukunft und damit das Leben im Griff? Viel mehr als Ohnmacht, ist es doch der Verlust von Macht, der zu unmenschlichem Verhalten führt, zu Groll, zu Gewalt, oder? Bleiben Sie mein Freund, Samuel, ich bitte Sie. Wo auch immer Sie sind.‹

A ntons erster Auftrag kam fast ein Jahr nachdem er den Koffer auf dem Fahrrad in Empfang genommen hatte. Er kam über die Frequenz und war mehrere Male verschlüsselt. Nachdem Anton in einer schlaflosen Nacht in der Ruhe seines Arbeitszimmers den Code entschlüsselt hatte, war er nicht schlauer als zuvor. Project Paperclip, Wernher von Braun, stand auf dem Zettel, den er noch im gleichen Augenblick auf Briefmarkengröße faltete und mit der Schere hundertfach zerschnitt. Büroklammern. Was hatte Wernher von Braun damit zu tun? Anton ahnte das erste Mal den Umfang seiner neuen Tätigkeit. Wie immer hatte er sich die Aufgabe, selbst diese hier, einfacher vorgestellt. Weil er sich gar nichts vorstellte. Sein Blick aufs Leben war ein Blick, der vor allem in einem geschult war: die Widerstände zu übersehen.
    Die Nacht draußen war still und dunkel und groß und

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