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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Mustern bedrohlich wirken, er hatte schmale, fleischige Lippen, in denen sich das Blut staute. Aber in seinen Augen lag etwas, das Anton nach einer Weile als Gleichgültigkeit auszumachen glaubte, eine Kälte, die auch mit Gelassenheit verwechselt werden konnte, sie war aber das Gegenteil.
    Anton ahnte, ihm war nichts anderes anzusehen. Überzeugungslosigkeit. Es war alles egal. Bis auf eines. Ein Privileg. Ein Geschenk. Eine Reise für Nadja. In den sonnigen Süden, wo die Luft warm war, das Licht bis in den Abend hinein glänzte und er und Nadja andere sein konnten.
    »Sie erhalten Mitteilung von uns. Die Forderungen liegen anbei«, sagte der Mann plötzlich und hielt, kaum bemerkbar, Anton den Koffer hin. Er zögerte nur kurz, eher, um seinen Sieg auszukosten, dann griff er zu. Stellte das Leder auf seinen Gepäckträger, stieg auf die Pedale und fuhr – eine Hand am Lenker, eine am Griff – los. Er versuchte mit aller Kraft nicht zu sehr in Schlangenlinien zu fahren, der Mann würde Schlangenlinien als einen Ausdruck von Wankelmütigkeit interpretieren. Die Linien waren nur dem kaputten Pflaster geschuldet. Er spürte das Angewärmte des Griffes, auch das Gewicht des Koffers und fuhr, ohne sich noch einmal umzuschauen, bis zur westlichen Seite des Volksparks durch. Die Sitzbänke waren feucht, verrottete Kastanien lagen auf dem Sand der Wege wie kleine fallengelassene Pferdeäpfel.
    Er öffnete den Koffer nicht sofort. Er ließ ihn auf seinem Schoß liegen und spürte sein Gewicht. Er legte beide Hände auf das Leder, schloß die Augen und sah zuerst eine breite Reihe von gebündeltem Geld vor dem Schwarz. Er sah sich für Nadja einen Pelzkragen kaufen in einem der wiedereröffneten Geschäfte am Kurfürstendamm, einen Pelz für Rom, Mailand oder Madrid, er sah Peter und Senta, beide auf frisch erstandenen Fahrrädern, er sah einen Scheck mit einer adäquaten Summe, den er durch eine Bank Herrn Samuel Weniger, New York, zukommen ließ – womit endlich sein schlechtes Gewissen gemildert wäre, jahrelang in einer Wohnung zu wohnen, für die er keine Miete zahlte. Er bemerkte, wie er das erste Mal seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten, so etwas wie Freude empfand. Sie überstrahlte alles. Er würde diese Chance ergreifen, das Bestmögliche aus all den Unmöglichkeiten machen. Zusammen mit dem Koffer. Der, je länger er auf seinem Schoß lag, je schwerer er wog, ihn umso tiefer erfüllte mit einem Gefühl der Leichtigkeit. Anton lächelte. Niemand sah ihn dabei.
    Dann öffnete er den Koffer.

›L ieber Samuel‹, schrieb Nadja, ›ich habe meinem eigenen Mann nie das erzählt, was ich Ihnen erzähle, die Schmach vor meinesgleichen. Und warum? Weil er dann gesagt hätte: Siehst du, dem Himmel sei Dank, daß wir dieses Land verlassen haben. Die Russen sind in ihren Herzen noch Barbaren. Sie sind verroht durch die Kälte, ausgezehrt von Iwan, Peter dem Großen, den Zaren, abgestumpft unter Revolutionen und Bürgerkriegen, zum furchtsamen Flüstern gebracht durch Stalin und seine Mannen. Sie haben sich eingerichtet im Kopfeinziehen, Politik und Moral ist ihre Sache nicht. Sie sind Könige im Durchlavieren. Ein Volk, das jeden Tag die PRAWDA liest und somit überzeugt ist, die Wahrheit zu kennen, sei in seiner Verblendung unbesiegbar, so etwas in der Art hätte er gesagt. Und natürlich Rache geschworen. Es steckt ein stiller Jähzorn in ihm. Er schluckt alles runter, lange Zeit, aber irgendwann bricht der Damm. Die Unberechenbarkeit, die darin liegt, läßt mich vorsichtig werden.‹
    ›Liebe Nadja‹, schrieb Samuel Weniger zurück, ›ich werde jetzt nicht auf das eingehen, was Sie über Ihren Ehemann geschrieben haben, den ich als einen stets hilfsbereiten und zuverlässigen Kollegen kennen- und schätzengelernt habe. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich eine Entscheidung getroffen habe, eine folgenreiche. Sie ahnen, welcher Art die Entscheidung ist.‹
    Anton betrat die Wohnung an einem sehr warmen Frühlingsabend, wie es sie manchmal gab in Berlin, eine Vorahnung des Sommers schon Mitte März. Er schloß die Haustür hinter sich, nahm den Geruch von gekochten Bohnen wahr, durchquerte das Berliner Zimmer. Im Hof nisteten Tauben, ihr Gurren war durch das offene Fenster bis hierher zu hören. Nadja war nirgendwo zu sehen. Anton wusch sich die Hände im Spülbecken, trocknete sie sorgfältig ab, nahm vier Teller, vier Gläser, vier Gabeln aus der Anrichte und deckte den Tisch im Wohnzimmer. Er ging zurück, um vier

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