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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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haben feine Antennen für das Auftreten und Aussehen anderer. Sie bemerken eine goldene Brosche am Revers der Dame, einen nicht zugebundenen Schnürsenkel bei einem Kind. Sie sehen eine Farbzusammenstellung in einer Auslage – und schon sind sie nicht mehr gerüstet für den lauten und komplizierten Straßenverkehr. Und nicht nur das: Fische mit einem Aszendenten in den Wasserzeichen sehen meist noch Gemütszustände anderer, nur am Gesichtsausdruck lesen sie sie ab. Und tauchen ein in diesen Schmerz, verlieren sich im Mitgefühl, ganz Fisch eben, der weiß, daß er als Hering im Schwarm eine höhere Überlebenschance hat. Aus diesem Grunde empfehle ich am heutigen Tage den Fischen, besonders solchen mit weiteren Wasserzeichen, aber auch der sensiblen, feinfühligen Waage im Aszendenten, zu Hause zu bleiben. Doppelte Fische hüten heute – das schreibt Ihnen an dieser Stelle Ihr Anton Neudecker – lieber das Bett.‹
    Als er den kleinen Text in den Satz gab und zurück in sein Büro kam, stand dort Samuel Weniger.
    »Ich hätte es wissen sollen«, sagte Anton, während er ihm die Hand reichte. Er zwang sich zu ausgesuchter Höflichkeit, er bot ihm seinen Schreibtischstuhl an.
    Weniger setzte sich und wirkte dabei auf eine nicht altersgemäße Art zerbrechlich. Er war schmaler geworden unterm Tweed, seine Krawatte war am Knoten leicht aus der Mitte gerückt. Dennoch war ihm dieser unverrückbare Kopf geblieben, eine Gradlinigkeit, die Anton instinktiv bewunderte und zugleich nervös werden ließ.
    »Haben Sie den Weg gemacht«, sagte er, mehr aus Verlegenheit, denn Weniger wirkte nicht redselig, eher schaulustig, wie er im Büro umherblickte, vom Schreibtischstuhl aus, immer leicht nach rechts, leicht nach links drehend.
    »Wie krank ist Ihre Frau?«, fragte Weniger plötzlich.
    Anton steckte die Hände in die Hosentaschen, stand nah am Bücherregal.
    »Sie ist stabil, aber die Heftigkeit der Anfälle verstärkt sich.«
    »Was für Anfälle?«
    »Die Ärzte nennen es paranoide Schizophrenie. Eine Kombination aus wahnhaften Überzeugungen und nur für sie vorhandenen Sinneswahrnehmungen.« Anton schluckte trocken, nachdem er das gesagt hatte.
    »Das hat sie mir nie geschrieben.«
    »Sie hat Ihnen etwas vorgespielt. Wie mir auch.«
    »Ich ...«, begann Weniger.
    »Sie ist Schauspielerin. Planen Sie, wieder in Berlin zu leben?«
    Weniger nahm das leichte Hin- und Herdrehen erneut auf. Das Leder knarrte. »Ich fühl mich ihr sehr nahe«, sagte er.
    Wie ein Geständnis, so schien es Anton, mit dem er ihn beruhigen wollte. Aber die Schutzlosigkeit, die sich darin offenbarte, ließ Anton zögerlich werden. Nadja war seine Frau, blieb seine Frau, er hatte es sich gründlich beigebracht, Zweifel an bestehenden Gegebenheiten zu ignorieren. »Ich glaub, ich kann in Berlin nicht sein«, sagte Weniger nach einer Weile.
    »Ich hab die ganzen Jahre eine Miete angespart, das Geldwar natürlich weg, aber das ist egal, ich möchte, daß Sie mir sagen, was ich Ihnen schuldig bin«, sagte Anton seltsam erleichtert.
    Weniger hörte auf zu drehen, sah ihn an. Anton fühlte sich gut, von oben auf den sitzenden Mann zu schauen, auch die Hände in den Hosentaschen fühlten sich gut an, denn er zitterte und seine Handflächen waren feucht. Er konnte sie an das Futter der Tasche drücken.
    »Ich will kein Geld«, sagte Weniger knapp.
    Er drehte sich wieder, Anton mußte sich abwenden.
    »Ich hab nur eine Bitte«, sagte Weniger und stand auf. »Die müssen Sie mir erfüllen.«
    Sie standen sich gegenüber.
    »Sagen Sie Ihrer Frau, daß ich hier bin.«
    Anton holte Luft, spürte aber, daß er im Begriff war, sich zu sehr in seinen Lügen zu verstricken. Es gab keinen Ausweg, außer weiter zu lügen. Er hatte das Lügen so satt. Und Herrn Weniger.
    »Und mich hat kein Arzt für verrückt erklärt.«
    »Leben Sie weiter mit Ihren Illusionen«, sagte Anton nur knapp.
    Weniger stand auf, ging Schritt für Schritt in Richtung Tür. »Sie werden ihr das sagen.«
    »Natürlich, das bin ich Ihnen schuldig.«
    Weniger schien auf seine Schuhspitzen zu schauen, er wirkte plötzlich wie ein Geschrumpfter in einem zu großen Mantel, an einem Ort, der sich aufgebläht hatte, zu groß geworden war. Anton hatte einen Augenblick lang das drängende Bedürfnis, seiner Wut freien Lauf zu lassen.
    Weniger öffnete die Tür.
    Anton beherrschte sich.
    Weniger drehte sich in dem Spalt, den er sich nur geöffnet hatte, um.
    »Sie sind auch schon von der Krankheit der

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