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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Zeit befallen.«
    »Danke für die Diagnose. Ich fühle mich mehr als gesund.«
    »Diese Gleichgültigkeit. Vollkommen frei zu sein von einer Überzeugung.«
    Die Männer schauten sich an. Keiner wollte der erste sein, der auswich oder zurückschlug, als läge im Ausweichen oder Zurückschlagen die Antwort. Ja, er trug diesen Mantel, der einzige, der wärmte, wer wollte sich noch von einer Ideologie, einem falschen Glauben oder sonst etwas wärmen lassen.
    »Ich hab’s hier durchgestanden«, sagte Anton, wütend auf seine halbierte Stimme.
    »Seien Sie stolz drauf«, sagte Weniger und drehte sich weg. »Ach, eins noch. Project Paperclip«, ein knappes Kopfnicken zum Schreibtisch, dort lag seitlich Antons Notizblock, »so nennen die Amerikaner meines Erachtens eine Mission, mit der sie deutsche Wissenschaftler in die Staaten bringen wollen, die zweite, dritte Reihe um Wernher von Braun. Sehr umstritten, kein Amerikaner läßt sich einfach davon überzeugen, für das Salär und die Rente von Nazis aufzukommen.«
    »Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen.«
    »Ich wußte nicht, daß Sie sich für Politik interessieren.«
    »Es hat sich vieles verändert während Ihrer Abwesenheit.«
    »Nicht wirklich«, lächelte Weniger und verschwand aus der Tür.

A nton ahnte, daß es nur ein Test war, ein lapidares Abklopfen seiner Intelligenz und Zuverlässigkeit, wenn der Begriff in Amerika in der Öffentlichkeit kursierte. Man wollte ihn testen, und zwar auf unterstem Niveau, kurz vorm Idiotentest, so schien es, er funkte trotzdem Wochen später über Langwelle seinen Code und hörte nur Tage danach eine Antwort, entschlüsselte sie und blieb nervös bis zur Übergabe.
    Er zog einen dunklen Anzug an, als Nadja ihn fragte, was es zu betrauern gebe, sagte er nebenbei: »Den Abschied von einem Kollegen.« Sie fragte nicht weiter. Er sagte dennoch erklärend: »Er wandert aus nach Amerika. Dort warten mehr Ruhm, Ehre und Geld.«
    »Wer denn?«, rief sie dann doch, als sie schon in der Tür der Küche stand.
    Anton blieb einen Moment an der Eingangstür stehen, die Klinke in der Hand. Sein Bericht, die zwei Seiten Namen, zwischen der Zeitung von gestern, einmal gefaltet und mit den offenen Enden nach oben unter den Arm geklemmt. Eine kleine Irritation, ein rätselhaftes Flirren hielt ihn auf, eine optische Täuschung, in der er kurz den Flur in Wenigers Wohnung gesehen hatte, er in jenem Flur, nicht hier, als wenn es ihn auch dort noch einmal gäbe, als wenn es möglich wäre, daß es ihn zweimal gäbe. Und nur einmal war er es wirklich, das andere war eine Erfindung, ob es nun dieser Flur war oder jener, unklärbar, eins war die Lüge, die zurRealität geworden war, eins die Realität, die zur Lüge verkam. Wenn Nadja die Lüge als Wahrheit nahm, mußten die zwei Flure doch verschwinden.
    Die dämmrig-kühle Vormittagsstimmung, wie sie nur Nordseitenwohnungen im Sommer haben können.
    Er wollte zu ihr gehen und sie küssen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er sie zuletzt geküßt hatte. Er wollte ihr einen Kuß geben und sagen, daß er heute am Abend wohlbehalten zurückkehrte. Daß nichts passierte, was etwas änderte. Daß alles so blieb, wie immer, er nur um eine nicht verachtenswerte Summe reicher geworden war. Ein Urlaub, ein Geschenk. Er blieb an der Tür stehen, die Klinke in der Hand. Das Klirren des Geschirrs in der Spüle. Resolut wusch sie ab. Fast wütend, wie mit einem Vorwurf, dachte er dann. Du gibst ihr einen Kuß, erst nur auf die Wange. Mehr als dieser Kuß, das nicht. Ein Abschiedskuß, wie du ihn ihr früher immer gegeben hast, selbstverständlich. Jetzt denkst du nach und gibst ihr keinen. Das Zögern ist voller Befindlichkeiten, im Zögern hat sich die Fremdheit eingenistet. Du siehst sie vor dir, wie sie lächelt, ihre Hände an der Schürze abtrocknet, sich zu dir dreht, sich selbst die lange, vom Mittelscheitel in ihre Stirn fallende Strähne hinter das Ohr schiebt. Du hörst, wie sie dir Glück wünscht. Glück. Du sagst, daß alles gutgehen wird. Daß du nichts anderes tust, als ein paar Seiten Handgeschriebenes zu überbringen, Namen, Wissenschaftler, die für die Menschen in der Sowjetunion interessant sein könnten, du machst das für das Gleichgewicht in der Welt, lächerlich, den Ausgleich der Kräfte, ach was, für eine Reise. Damit ihr wegkommt von hier. Mehr als ein Kurzurlaub, das geht nicht, aber ein Kurzurlaub, das wäre doch schön. Das ist nichts, wofür man ins Gefängnis kommen

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