Das Glück der Zikaden
Messer zu holen, da ihm sein Gedeck für den großen Tisch zu bescheiden vorkam, und er beschloß, sich auf die Suche nach den Leinenservietten zu machen, vielleicht ließen sich sogar Serviettenringe finden, die silbernen mit den Initialen von Wenigers Familie. Er zog die Schubladen der Anrichte auf, hob die Spültücher, die Topflappen, die alten Schuhputzlappen hoch, die er darin fand. Er öffnete den hölzernen Oberschrank, zwischen dessen Regalbrettern noch einmal flache Schübe waren, er tastete sich vor, denn er wollte nicht jeden Schub herausziehen. Er tastete die Leinenservietten. Jetzt wollte er die Ringe. Im nächsten Schub tastete er dünnes Papier und wußte in dem Moment, als er es an den Fingern fühlte, daß er die ganze Zeit damit gerechnet hatte, genau das zu finden.
Nachdem er die Briefe nur überflogen hatte, legte er den Stapel vorsichtig wieder so zusammen, wie er ihn meinte vorgefunden zu haben, knickte und verstaute ihn in der Schublade. Er drückte die Türen der Anrichte zu, als sei es ihre Aufgabe, eine Flüssigkeit in Schach zu halten. Er ging in sein Arbeitszimmer, zog den ledernen Koffer, den er unters Bett geschoben hatte, hervor und stellte den Weltempfänger mittig auf den Schreibtisch. Nadja kam von der krankenNachbarin runter, um die sie sich vor einiger Zeit zu kümmern begonnen hatte.
»Guten Abend«, sagte Anton, als er sie an seinem Zimmer vorbeigehen sah, um Förmlichkeit bemüht.
»Du bist schon da«, sagte sie knapp und ging weiter in Richtung Küche.
Senta war ein bildhübsches Mädchen geworden, das fiel Anton beim Abendessen, als sie am großen Tisch im Berliner Zimmer saßen, auf. Sie trug ihr Haar kurz und gewellt, hatte den langen Hals ihrer Mutter geerbt, das prägnante Kinn und den dunklen, melancholischen Blick. In ihm sträubte sich etwas dagegen, seine Tochter und ihre erwachende Fraulichkeit wahrzunehmen. Er redete vor anderen immer noch von seinen Kindern, er unterließ es nicht, manchmal weiterhin Peterle zu seinem Sohn zu sagen. Er sah Nadjas verschlossene Miene, er wollte prüfen, ob sie ihm auswich oder einfach im allgemeinen abwesend war. Sie hatte sich das Haar machen lassen und ihre Fingernägel waren lackiert.
»Wir können nachher zusammen am Weltempfänger sitzen und schauen, welche Nachrichten wir finden«, sagte er mit einer Nachdrücklichkeit, die er sonst nur von sich aus Redaktionssitzungen kannte, wo man jeden Vorschlag wohlüberlegt und auf diese Art formulieren mußte, wenn man nicht von vornherein übergangen werden wollte.
»Ach, Papa, du und dein Radio«, sagte seine Tochter milde.
»Es soll bald Fernsehen geben«, sagte Peter, hochgewachsen, größer als sein Vater, aber schlaksig und seit Beginn dieser Zeit des Übergangs ohne Proportion.
»Ein Weltempfänger ist viel mehr als ein Radio.«
»Aber er hat kein Bild.«
»Irgendwann wird er das haben.«
»Ja, dann ist es ein Fernseher.«
»Du kennst dich aus«, sagte Anton zu seinem Sohn. »Bin ich wie immer der Einzige, der von nichts weiß?«
»Manchmal, Papulja«, sagte Senta versöhnlich, »aber das ist doch auch nicht so schlimm.«
Anton betrachtete Nadjas Hände, wie sie das Besteck präzise parallel auf den Teller legte, zwei Schienen, die sich auch in der Unendlichkeit nicht berühren würden. Ihre Finger an der Serviette abwischte, dann das Leinen kurz in Richtung Mund führte, darauf bedacht, nicht ihren Lippenstift, den sie passend zum Nagellack trug, zu verwischen. Er sah, wie sie es genoß, ihr Geheimnis zu hüten, es ließ sie von innen heraus leuchten, sie hatte eine Bühne betreten, zu der nur sie den Eingang kannte, und dort stand sie jetzt und empfing ihr Gegenüber – einen großgewachsenen, schlanken Mann, der zugleich Verletzlichkeit und Selbstgewißheit ausstrahlte, der auf eine Bühne viel besser paßte als hinter einen Schreibtisch, den manchmal die gelackte Makellosigkeit eines Schauspielers umgab, der zu lange ein und dieselbe Rolle gespielt hatte, ja, auch das war Samuel Weniger –, und in diesem Moment breitete sich in Anton die Gewißheit aus, daß er die Briefe vollkommen ignorieren würde. Er wollte nichts wissen von dem Geflüster. Das Intimste wohl eher auf den letzten Seiten als auf den ersten. Er schaute seine zwei Kinder an, folgte ihren vertraulichen Reden, Sentas warmherziger Stimme, oft war sie fast nachsichtig gegenüber den manchmal altklugen Reden ihres kleinen Bruders, seinen ständigen Unterbrechungen. Nur, weil sie in Herrn Wenigers
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