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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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kann. Oder umgebracht wird. Nichts Verwerfliches. Man macht es, wie alle. Alles Gute. Wir werden schon sehen.
    »Bis später«, flüsterte er beim Öffnen der Haustür.
    Nadja zog einen Frühstücksteller aus dem Schaum des Waschwassers und verfolgte eine schillernde Blase auf ihrem Weg hinab, an den Rosetten vorbei bis an den Rand, wo sie platzte. Dann stellte sie den Teller in das Abtropfgitter und vergaß ihn dort für den Rest des Tages.
    Der Mann, der ihm den Koffer gegeben hatte, stand am verabredeten Ort und rauchte. Vor Straßenzügen, die in Unterführungen endeten, für die Durchfahrt stillgelegt, der Sowjetische Sektor begann hier. Anton folgte dem Mann, der sandfarbenen Anorakjacke, den grauen Hosen, dem viel weniger akkuraten Gang, als ihn der vertrauenswürdige Herr Brehm gehabt hatte. Auf der Höhe eines räudigen Grünstreifens setzte sich der Mann auf eine Bank. Anton riß sich zusammen, blieb stehen, scheiterte dann aber an seiner nervösen Ungeduld und setzte sich schon nach wenigen Minuten dazu, legte seine Zeitung hin, Magensäure stieg ihm in den Hals. Der Mann sagte: »Ich liebe diese Sommer in Berlin. Die Leute fahren in die Sommerfrische, endlich ist man sie los. Nichts ist an Berlin so schrecklich wie die Leute, die hier leben.«
    »Sie sind Rheinländer?«
    »Passen Sie auf, was Sie sagen.«
    »Ich hatte gehofft, einen Witz zu machen«, sagte Anton.
    Sie schauten jeder für sich geradeaus ins halbwilde Grün.
    »Hoffen wir, daß das andere kein Witz ist«, sagte der Mann, griff nach der Zeitung und stand auf. Anton tat es ihm nach, als er neben ihm stand, ging dieser jedoch einfach fort.
    Anton war im Begriff, ihm nachzugehen, eine Frage zu stellen. Er beherrschte sich. Das Adrenalin pochte am Hals, an den Schläfen. Sein Puls beschleunigte sich für eine Flucht, seine Füße wollten los, jede Zelle, jede Synapse seines Hirns wollte so schnell wie möglich von hier fortkommen. Erschaute sich um. Auf der Sitzbank, auf der sie eben gesessen hatten, lag keine Zeitung, kein Umschlag. Der dämliche Trottel von Der Letzten Seite , soviel war klar, und das Adrenalin nicht loszuwerden, er konzentrierte und zwang sich, ruhig weiterzugehen. Er kam an einem Müllbehälter vorbei.
    Der Botenstoff der Angst quoll über, wurde Wut. Es machte ihn rasend, mit der bloßen Hand im Weggeworfenen zu suchen. Eine Zeitung, ein vollgeschneuztes, eingetrocknetes Stück Stoff, ein Ast, ein Apfelgriebsch, wie ihn nur Kinder hinterließen, säuberlich bis aufs Kerngehäuse abgenagt. Er schmiß ihn weit in die Büsche, nahm die Zeitung, bebend, kaum fähig, stillzusitzen, so setzte er sich auf die nächste Sitzbank und blätterte sie durch. Kein Geld. Er faltete sie zusammen, faltete sie noch einmal auseinander, immer noch kein Geld. Er rollte sie so, daß sie ein fester Knüppel wurde und schlug damit gegen sein übergeschlagenes Bein. Das Adrenalin zwang ihn, jetzt endlich diesen Ort zu verlassen, es war schon viel zu spät, die, die ihn beobachteten, waren nah. Aber das Geld. Keine Chance auf das Geld. Ein Test. Die Verhaftung. Wenigstens das Geld. Er sprang auf, knallte die ausgelesene Zeitung in den Mülleimer, zwang sich, einen letzten Blick in den Mülleimer zu werfen und angelte das Stück Stoff heraus, ein Taschentuch, Modell für Männer, handumnähte Rollkanten. Aus dem Ekel wurde ein gallenscharfes Sodbrennen. Er steckte das Tuch zusammen mit einer Hand in die Tasche des Jacketts. So, ohne einen Blick drauf zu werfen, tastete er sich vor. Er tastete sich über den eingetrockneten Rotz. Wie sie mit ihm ihre Witze trieben. Das war ihr Humor. Er ging los, tastete, die Blicke von überall her auf seine sinnlose Suche. Sein öffentliches Scheitern. Ihr Lachen, wie sie über ihren Witz lachten, hinter allen Brandschutzmauern, Straßenbiegungen, schwarzen Fenstern.
    Nichts. Er fluchte, die Demütigung begann, ihm den Hals zuzuschnüren. Er hätte dem Mann nachrufen sollen, den räudigen Grünstreifen hinunter. Ohnmacht war wie zu taumeln bei offenen Augen. Er rief nicht.
    Er folgte dem Adrenalin, er mußte gehen, wenn er schon nicht floh, er war so dämlich, so unglaublich und mehr als dämlich, so dämlich, daß es schon wieder zum Lachen war, lächerlich, wirklich, was für ein Trottel er war. Er kreuzte eine weitere Sitzbank, noch eine. Er fluchte, er sah zwischen den Kanthölzern eine zusammengerollte Zeitung stecken. Er näherte sich der Bank, er stand davor, unschlüssig für einen Augenblick, gelähmt.

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