Das Glück der Zikaden
Dann schaute er sich um, ob kein Mensch in der Nähe war. Er zog die Rolle heraus. Darin, platt, wie gebügelt. Drei Hundert-Mark-Scheine. Er weinte. Vor Glück.
N eben dem redseligen Kollegen Kattner saß die Ehefrau mit den umschatteten Augen. Je länger Nadja sie beobachtete, umso kräftiger wurden die Schatten, schien es. Vielleicht lag es am Wodka, den Nadja mit den vier Männern trank und der deutlich ihren Blick aus der Mitte rutschen ließ. Die anderen Frauen nippten nur, Frau Krohn und ihr Mann feixten, die gemütliche, mütterliche Frau von Antons Chef Marusch hatte um einen Likör gebeten, den pries sie nun in der Runde an, wie sie auch Nadjas Piroschkis, das Gulasch, das selbstgebackene Brot, den Salat, die gefüllten Eier gepriesen hatte.
Nadja meinte, mehr als ernstgemeinte Höflichkeit in ihrem Kompliment zu hören. Sie war auf eine solidarische Art verbindlich. Keine Komplizenschaft, die sich durch Verschwörung stärkte. Nach dem vierten Likör sagte Frau Marusch: »Nadja, meine Freundin, könnten Sie uns ein russisches Lied spielen?« Ein Affront, wie ihr Mann sogleich konstatierte, er war schon den ganzen Abend bemüht um Harmonie, so wenig Politik und Ost-West wie möglich. Anton unterhielt die Runde mit Nachrichten aus Königshäusern und einer Einschätzung der zukünftigen Herrenmode, die so Undenkbares enthielt wie fehlende Hüte und Schlipse. Herr Marusch warf ein, daß er sich für seine bayerisch-forsche Frau zu entschuldigen habe, denn vor allem habe sie Nadja ja halb geduzt. »Das ist kein Affront«, sagte Nadja mit klarer Stimme und stand auf. Fast hatte sie daraufgehofft, daß einfach mal jemand Fremdes sie so fragen konnte, wie eben Frau Marusch sie gefragt hatte. Sie sah in das Gesicht von Frau Kattner, die ihren Blick nie aufhob vom Tisch, den Kegel des Likörglases wie ein Küken in der Hand hielt, das jederzeit flügge werden konnte. Sie schien sich unter die Gespräche zu ducken, als helfe dies beim Verstecken ihrer offensichtlichen Traurigkeit. Nadja zog aus diesem Spiegelbild, in dem sie sich den ganzen Abend schon zu sehr erkannt hatte, eine Kraft, die sich auch aus der Abstoßung des Gleichseins speiste, aber das war ihr egal. Es war eine Kraft. Sie streifte Antons Schulter, als sie aufstand. Er streckte eine Hand nach ihr aus, erwiderte die Berührung. Nicht erst der Wodka hatte ihn entspannt, er war in einer seltsam aufgeräumten Stimmung nach Hause gekommen, hatte ihre letzten Vorbereitungen für den Abend verfolgt, den Tag vorher auch schon, ein Rätsel, vielleicht war es seine Vorfreude gewesen auf die Einladung, das erste Mal, daß er zwei Kollegen und seinen Chef zu Hause bewirten konnte und dafür selbst großzügig eingekauft hatte.
Nadja setzte sich ans Klavier, hob den Deckel hoch, konzentrierte sich auf ihre Finger – lange unbenutzt, wozu noch fähig? – sie sammelte sich, hörte, wie das letzte Plaudern am Tisch versiegte, und begann zu spielen.
Irgendwann summte sie mit, spielte übergangslos weitere Lieder, und es wurde immer leichter mit dem Weitermachen. Anton zog den Teppich beiseite, Kollege Kattner nahm seine Frau an der Hand, der Chef und die gemütliche Freundin einigten sich darauf, einen Rumba zu tanzen, das Ehepaar Krohn tat es ihnen gleich. Ein herrliches Geräusch, das Getrappel der Hacken auf den Dielen, das Knirschen der Ledersohlen, der Chef trug Budapester, die bei jedem Schritt quietschten. Nadja spürte, wie Anton hinter sie trat, ihr seine Hände auf die Schultern legte, ganz leicht, sie genoß seine Nähe und auch seinen Stolz. Sie genoß das Aus-dem-Versteck-Kriechen, wie leicht es war, diese Nähe herzustellen, eine Nähe, die sie so lange nicht gehabt hatten. Es steckte viel Ungeübtes darin, ja, sie waren im einfachen, entspannten Beieinandersein vollkommen aus der Übung. Die Unsicherheit, die sie beide empfanden, fingen sie auf, indem sie umtriebig vorbereitet hatten; gemeinsam überlegten, wer wo sitzen sollte, die Bratensoße abschmeckten, die Gläser polierten. Antons fast kindliche Aufregung hatte sich auf sie übertragen. Der Wunsch, vor den anderen als ein Paar, das gut miteinander war, wahrgenommen zu werden, steckte mit in ihrem Tun. Sie sehnte sich nach einer Entspannung, die nach einem guten Essen, Wein und Wodka, nach leichten Gesprächen zustande kam und alle miteinander verband. Ein Abstand von ihrem bescheiden gewordenen, alltäglichen Zusammensein.
Vorgestern hatte er ihr diese Pelzstola geschenkt. Wie eine
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