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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Herzschlag in der Mitte des Magens. Er mußte sich setzen. Er zwang sich wieder zu atmen. Kattner konnte nichts wissen. Kattner hatte einen Scherz gemacht, wie er immer Scherze machte. Was hatte er eigentlich gesagt?
    Obwohl seine Knie jederzeit nach hinten zu klappen drohten, mit dem faustgroßen, pochenden Gebilde im Magen, stand er auf und ging in der Nähe der Flurwand auf Kattners Büro zu. Die Tür stand offen, Kattner am Fenster, er telefonierte nicht.
    »Was werden die Sowjets nicht machen«, fragte Anton und hoffte, daß seine Stimme mehr als beiläufig klang. Er schob die Schultern vor, so daß es lässig wirken mußte, wie er dort stand. Er verschränkte die Arme. Kattner drehte sich nicht um.
    »Kannst mich morgen fragen. Oder selbst sehen. Wenn die ganze Scheiße fertig ist.«
    »Wenn was fertig ist.«
    »Frag mich morgen!«
    Anton holte Luft, er rang sich durch: »Und warum sollte ich dafür verantwortlich sein?«
    »Ach, Mann. Geh nach Hause.«
    Anton stieß sich vom Türrahmen ab, besser nicht auf seine Knie verlassen, das waren Gummischläuche. In Wandnähe bleiben, ihre zuverlässige Unterstützung in Anspruch nehmen. Da hörte er, wie Kattner Richtung Fenster sagte: »Was für ein fettes Stück vom Braten.«
    Nadja stand an den Stufen zum Eingang der U-Bahn, als sie die Schlagzeile hörte und erst gar nicht richtig verstand, dann näher zum Verkäufer trat, ihm eine Zeitung abkaufte, was sie seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Sie trug die Zeitung vor sich her, ein Tablett, auf dem einreihig und groß stand: OST-BERLIN IST ABGERIEGELT! , mit diesem Ausrufezeichen, das wie ein Beil den Rest des Satzes abgehackt zu haben schien. Sie ging in den dämmrigen Schlund, vollkommen ruhig, erst, als sie unten angekommen war, drehte sie plötzlich um, preschte die Treppe hoch, trat wieder ins Freie und lief zu Fuß Richtung Süden. Sie spürte eine sich aufscheuernde Stelle an der Fußinnenseite, die Blase bildete sich, ein Stechen bei jedem Schritt. Sie lief weiter, kam nur an Straßenübergängen zum Stehen, sie nahm den aufbrausenden Verkehr um sich herum nicht mehr wahr. Er war ein Hintergrundgeräusch zu ihren Schritten, Hacke auf Asphalt, das Rascheln des Rockfutters, das Tschilpen der Strumpfhose an den Innenseiten ihrer Schenkel.
    Auf dem Klingelschild stand nicht Weniger, oder, wie in den Jahren, in denen sie dort gewohnt hatten, Neudecker. Helkmann stand dort. Sie hob den kalten Griff, der die Form einer Schlinge hatte, und hörte das Läuten im Inneren der Wohnung.
    Nicht mehr wissen, wo man ist, außer in den äußeren Rand des Teils der Stadt geraten zu sein, der noch zugänglich war. Die Frau an der Tür hatte ihr nur den Namen der Pension genannt. Sie hatte sich durchgefragt, hier in der Nähe des Tiergartens, eine schäbige, heruntergekommene Fassade, ein billiges Hotel für Handlungsreisende.
    »Dann gehn se doch ruff«, sagte der hagere Mann hinter der Rezeption. Er hatte wäßrige Augen, gerötete Lider, einen Spalt zwischen Augapfel und Lid. Er musterte sie. Sein linker Mundwinkel schien gelähmt. Die letzten fünf Millimeter seiner Zigarette verglommen im Aschenbecher. »17, wenn ick mich nicht täusche.« Die Blumentapete löste sich in blasenähnlichen Beulen von der Wand, Nadja roch das feuchte Mauerwerk darunter. Eine grüngestrichene Holztreppe führte in den ersten Stock. Stromkabel liefen kreuz und quer an den Wänden und Decken, eine nackte Glühbirne in der Mitte des Flurs. Sie ging auf dem Läufer bis ans Ende des Flurs, dort teilte er sich wie ein T, sie ging nach rechts.
    16. 17. Sie horchte. Ein stiller Raum, ein Gang, ein Durchgangsort, an dem man seine Geschichte gut vergessen konnte.
    Nadja hob die Hand, um mit den Knöcheln zu klopfen. Sie bewegte sich nicht mehr. Hinter ihr Schritte, gleichmäßig und ruhig, den Gang bis zum T, jetzt in ihre Richtung. Sie hielt die Hand, wie eine Faust neben ihrem Gesicht, nah an der Tür und doch nicht daran, sie schaute den Gang hinunter, nicht in Richtung der Schritte, am Ende ein Fenster, ein Heizkörper, ein Rohr, ein paar Schuhe unter seinen Rippen. Eine Stimme fragte: »Wollen Sie zu mir?«
    Sie drehte sich um. Sie sah ihn an. Er war nicht viel größer als sie, ein Gesicht, das in ihr eine Erinnerung wachrief, das dichte, ergraute, krause Haar, die dickrandige Brille, ein schonungsloser Blick, der sich hinter dem Glas ganz wohl fühlte, er roch nach Kartoffeln und Zwiebeln, nach regenfeuchter Wolle und Zigaretten. Sie wußte,

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