Das Glück der Zikaden
während er weitersprach, daß es seine ruhige Stimme war, die ihr Otto gegenwärtig werden ließ. Diese Nüchternheit, voller Ironie und Selbstzweifel. Man überhörte die Macht, die darin steckte, andere zu beherrschen, auch, weil seine ganze Erscheinung auf den ersten Blick eher weich wirkte. Otto hatte sie in die Enge getrieben, immer wieder wie bei Tieren die Überlebensinstinkte geweckt, um dann von ihnen das zu bekommen, was er hatte haben wollen. Sie wußte, daß er eine Gefahr war, in jeder Hinsicht die größtmögliche Gefahr.
Er schwieg. Dann sagte er: »Nadja.«
»Nein«, sagte sie, »es ist nichts.«
Die abschüssigen Augenbrauen, die Frage in seinem Gesicht, eine Unernsthaftigkeit gepaart mit einer Nuance Herablassung, und sie dachte einen Augenblick lang, daß er einen Scherz machen, sie erlösen könnte. Er schwieg und wandte sich seiner Tür zu, dem schäbigen, ihm nicht würdigen Rechteck, durch das er gleich treten würde. Sie mach-te einen Schritt zur Seite. Er wartete eine Sekunde, ob aus Höflichkeit oder Unschlüssigkeit, das konnte sie nicht sagen.
Sie ging an ihm vorbei, an dem Mann, dem sie alles geschrieben hatte. Sie ging hinunter von der Bühne. Es gab nichts zu sagen.
Er fragte sie etwas, das sie nicht verstand.
Er rief es über den Gang.
Sie bog am T ab, polterte die grüne Treppe runter, die Blumen in Beulen, die Kabel, der alte wasseräugige Mann.
Sie saß in der Straßenbahn und schloß die Augen. Das Klingeln drang von sehr weit draußen zu ihr hinein. Ein Scheppern, das nicht zu der Welt gehörte, in der sie gerade war. Als sie verstand, daß es die Straßenbahn war, in der niemand mehr saß, begann sie es mit Absicht zu überhören. Aber das Bild des Ortes, an dem sie war, drohte zusammenzufallen wie durchgeglühtes Holz. Dort steht sie, in der Woge Menschen, die in zwei Richtungen zieht. Hinein und hinaus. Sie sieht Antons Hut zwischen den Hüten der anderen verschwinden, die Strömung treibt ihn fort. Die Kinder treiben mit ihm, sie werden mit ihm an Land gespült, keine Frage. Sie dreht sich um, geht durch die Wogen, der Gang in hohen Schuhen, etwas, das sie immer gemocht hat, es strafft den Körper zwischen oben und unten. Sie weiß um ihre Kontur mit scherenschnitthafter Präzision, hier ist sie, dort nicht mehr. Gehen, das heißt: Bleiben. Sie lächelt, als sie durch das Portal tritt und auf der Bühne steht. Jemand berührt sie am Arm, sie entschuldigt sich bei dem Fremden, der Fremde sich bei ihr. Sie atmet ein, die feuchtwarme Luft hier oben, der dichte Rauch im Zuschauerraum unten, das Gleißen der Scheinwerfer, ihre Hitze auf der nackten Haut, darunter ist es kalt. Das Gefühl für die Töne schon im Bauch, im Hals, auf der Zunge, es fühlt sich an wie einen Menschen zu küssen, den man für alle Zeiten über alles inder Welt liebt, für den man heraustritt, in dem man sich auflöst. Jetzt, hier, wenn sie singt, dann ist das wie verschmolzen zu sein, kein Hier und Dort, überhaupt kein anderes gibt es, nur die Töne und den Gesang. Sie spürt die Entschlossenheit bis in die Hacken ihrer Schuhe, als kenne sie den Weg. Und wie sie ihn kennt.
Der Schaffner ruft aus seiner Fahrerkabine, laut und mit Berlinerischer Unnachgiebigkeit. »Hier ist Schluß mit uns, junge Dame.«
Sie merkt nicht, daß sie schon draußen ist, die Türen schließen hinter ihr, die Bahn rattert fort durch die milde Luft des Sommers, die leichte Kühle des Abends, Mitte August. Sie weiß nicht, wohin sie gehen kann, nur daß sie gehen muß, auf einem Bürgersteig steht man nicht still und imaginiert, man sei ein anderer Mensch oder ein Mensch in einem anderen Leben.
Anton hörte, wie jemand die Wohnung betrat. Er hörte die Schritte, in zwei gegenläufige Richtungen, und wußte, daß es nicht Nadja war.
Senta erschien in der Tür zu seinem Arbeitszimmer.
»Wo ist Mama?«
»Ich dachte, du kannst es mir sagen.«
Seine Tochter verschwand, kurz darauf hörte er, wie sein Kind in der Küche herumrumorte, durchs Wohnzimmer ging, und dann nahm er das Rascheln wahr von Seidenpapier, es mußte das Seidenpapier der Pelzstola sein, die Nadja zur Aufbewahrung wieder zurück in die Pappschachtel gelegt hatte, nach dem gestrigen Abend. Er fragte sich, warum er über Senta immer noch sagte, sie sei sein Kind. Sie war kein Kind mehr. Sie studierte für das Lehramt. Wie Peter, der auch die Hochschule besuchte. Beide wohnten noch hier, sie waren eine Familie, aber eigentlich, wenn man genauer hinschaute,
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