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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Kreuz wuchs sich zum Feld aus, wie Hefte in der Auslage eines Kiosks, dann war es still, der Mann studierte mit einem Gesicht, das auf der unversehrten Seite fast zufrieden wirkte, und sagte: »Schon deine Mutter war eine sehr einsame Frau.«
    »Oh, nicht die alten Geschichten«, sagte Senta.
    Er schaute sie nicht an, er schnalzte nur in bedächtigem Tempo eine nach der nächsten Karte in die freien Flecken des Feldes, darunter einen Gehängten. Senta spürte sofort, wie sie sich verschloß, daneben las sie auf dem Kopf den Tod, den Einsiedler, die Hohepriesterin, lächerlich, diese Figuren konnten auf dem Tisch liegen und was erzählen, aber glauben – letzten Endes glauben würde sie nichts.
    »Hier ist ein Mann.« Sein rundgefeilter, gepflegter Fingernagel punktierte den Tod.
    »Nein«, sagte Senta, »der, den ich meine, lebt noch. Da bin ich sicher.«
    »Sicher«, er lachte verhalten, was eher einem Gurgeln glich, »sicher ist nur eines. Sommer, Herbst und Winter. Dann kommt der Frühling. Entspannen Sie sich.« Er lächelte einseitig, Senta starrte auf die Seite des Schwammes. Sie hatte es plötzlich ganz satt, immer dieses Gerede von Entspannung. Wenn ich mich entspanne, hätte sie dem Versehrten gern gesagt, fall ich auseinander in tausend Partikel. Da kann man mir erzählen, das sei nur eine Einbildung, für mich ist es real. Ich bin nicht mehr existent, wenn ich stillstehe, wenn ich nichts tue, ich bin nur noch so ein Teilchenhaufen, mehr nicht, ich hab fünf Kinder, ich kann kein Teilchenhaufen sein, ich muß da sein und funktionieren. Na, das können Sie sich vorstellen, vielleicht auch nicht. »Ich zerfalle, wenn ich nicht tüchtig bin«, sagte sie nur.
    »Ich dachte, wir hätten eine Existenzberechtigung, auchohne unseren fleißigen Fleiß«, bemerkte der Versehrte lapidar. »Aber dieser Mann ist weg«, wieder das Tippen mit dem geordneten Fingernagel, und in fließender Beiläufigkeit wurde das Feld am Rand weiter ausgelegt.
    »Halt«, sagte Senta, »Sie brauchen nicht weitermachen.«
    »Aber tüchtig mach ich weiter! Sie gehen auf eine Reise, unverhofft. Wie alle Ihre Reisen, so scheint’s, nur parallel zur Realität.« Er drehte den Wagen vom Kopf auf die Füße. »Wenn es keine Zügel gibt am Wagen, also das Bewußtsein fehlt, daß nur du die Richtung ändern kannst ...«, ein spitzer Finger zog die Liebenden aus der letzten Reihe, schnalzte sie abseits, eine Karte dazu, die Ränder der Karten rauh und verbraucht, als hätten sie schon zu oft etwas aus ihrer Flachheit quetschen müssen. »Kein Wunder. Dein Vater. Der Einsiedler auf dem Kopf. Er fürchtet sich, mein Gott, fürchtet der sich, dabei würde er gerne glauben, aber er weiß nicht, an was.«
    »Wovor fürchtet er sich?« Der Tisch, ein schwarzes Becken, die Karten Flöße, alles trieb im fahlen Licht der Trottellampe, und Senta hob die Hand, war auf dem Weg, aufzustehen, ihr Brustkorb, eine Enge, als hätte sie zu schnell ein großes Glas Wasser getrunken. »Wovor du dich fürchtest, immer das Gleiche.« Der Sitzsack knarrte, und Senta versuchte aufzustehen, aber er kam ihr zuvor, griff nach ihrer Hand. »Bezahlt wird bei meiner Mutter. Du verpaßt aber dein Fortune, dein Glücksrad, willst du das?«
    Senta sank zurück auf den Sitzsack, rollte sich auf ihm ein, sah ihre Tochter vor sich, wie sie draußen auf der Bierbank saß, das Schmalzgebäck in der Tüte, und wie die Jungs eine um die andere Kurve im Autoskooter drehten, darauf bedacht, möglichst frontal gegeneinanderzustoßen. Sie verliehen ihr das Gefühl von Lebendigkeit. Sie brachten sie in den Zustand äußerster Zerstreuung, förderten mit all ihren Bedürfnissen, Wünschen, Forderungen ihre Abwesenheitvon sich selbst, sie war so sehr in den Kindern aufgegangen, daß sie kaum noch einen blassen Schimmer davon hatte, was sie war, was sie wollte, was ihr Glück war, woraus ihre Ängste bestanden. Vor allem hatte sie durch die Kinder gelernt, daß es nie einfache Lösungen gab, daß das Gewirr aus allen fünf Leben ein Knäuel war, nicht so einfach zu entwirren wie Wolle, daß ihre Charaktere miteinander verwoben waren, sich bedingten, umspannten, und um dieses Tohuwabohu nur ansatzweise zu verstehen, hatte sie jedes Lämpchen ihrer Aufmerksamkeit anschalten müssen, kein Licht für sich selbst übrig, kein Gefühl mehr, nichts, woran sie glaubte, wofür sie Zeit hatte, außer heraneilendes Unglück in Form von Fahrradstürzen oder ähnlichem zu vermeiden, grundlegende

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