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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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auftun, in dem er leben wollte, der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden. Und nicht der letzte, so viel war sicher.
    Ein weiterer Befehl aus dem Nebenraum, die knarrende Stimme zur Antwort, dann schob sich der Grenzer durch den Spalt der Tür zurück ins Kabuff, lächelte Gregor an. »Herzlich willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik.« Er zog aus einem Hefter ein Einlegevisum, ein Blatt statt eines Stempels. Falls Gregor jemals zurückkehren wollte. Er überlegte, ob er dem Grenzer das sagen sollte: Rückkehr ausgeschlossen. Aber dann schaute er seinem Gegenüber nur in die Augen und sagte »Danke«. Beide hatten sie ihre Hände an Gregors Bundesrepublik-Paß, der Grenzer lächelte genüßlich, die Frage vielleicht noch auf den Lippen. Ein kleines Kräftemessen, Gregor zog mit einem Ruck dem Grenzer den Paß aus den Fingern. Dieser hob das Kinn, weiterhin lächelnd, und sagte, jetzt ungezwungen berlinernd: »Na, maximale Kampferfolge wünsche ick unserm neuen Jenossen.«
    Seit seinem Übertritt waren zwanzig Jahre vergangen. Zehn davon hatte er der Idee nachgehangen, Berufsrevolutionär zu werden. Dieser Plan hatte sich zunehmend am sozialistischen Alltag abgeschliffen, und Gregor war beim freudigen Aufrechterhalten seiner Überzeugungen immer nachlässiger und bei der freudigen Verbreitung seiner Ideale immer dezenter geworden. Bis er in einem Halblaut, einem Mezzopiano sozusagen, angekommen war, dann in einem Piano, das hinüberglitt in ein Flüstern. Danach fing er an zu schweigen. Parallel dazu hatte er in einer Gärtnerei in der Nähe von Dresden gearbeitet, Gedichte erst noch für sich, dann für die Schublade und schließlich fürs sofortige Verbrennen geschrieben, aber es offensichtlich über den Umgang mit den Setzlingen und die Arbeit an der frischen Luft verstanden, nicht in Schwermut zu fallen. Er behielt, seltsam genug, seinen Optimismus, seine unbeirrbare Frohnatur. Er war beliebt bei den Genossen, und dennoch kannte ihn keiner wirklich. Bis er Winfried kennenlernte.
    Die letzten zwei Jahre, bis zum Frühjahr 1986, hatte er als Gärtner nicht mehr nur Pflanzen in Umlauf gebracht, sondern auch eine knappe Handvoll Bücher, die ihm sein guter Freund zum Lesen gegeben hatte und die das Prädikat der Staatsgefährdung trugen. Er hatte Winfried in dessen Wohnung kennengelernt, über eine Bekannte aus der Gärtnerei. Und Winfried bewohnte eine stattliche Wohnung mit einereindrucksvollen Sammlung von Büchern. Winfrieds Eltern hatten in Moskau für die Kommunistische Internationale gearbeitet, Winfried war Mitglied der SED und arbeitete zu dem Zeitpunkt am Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf. Er war wie Gregor kein Mensch, der zu Ängstlichkeit neigte. Winfried war überzeugt davon, daß es an der Zeit wäre, über die Ausübung der Macht durch die Diktatur des Proletariats neu nachzudenken, die führende Rolle der SED in Frage zu stellen, der sozialistischen Demokratie Haltungen wie zum Beispiel den Mut zur freien Meinungsäußerung hinzuzufügen. Schlußendlich unterzog Winfried die Bündnisbeziehungen mit der Sowjetunion und dem proletarischen Internationalismus einer so ausführlichen Analyse, daß er zu dem Schluß kommen mußte, seine Republik habe sich wie in einer Ehe in eine ungute Form von Abhängigkeit begeben. Winfried fand seine Auffassungen vor allem in vier Schriften, die er Gregor zum Lesen gab, widergespiegelt. Jürgen Fuchs’ Vernehmungsprotokolle waren darunter wie auch Wolfgang Leonhards Die Revolution entläßt ihre Kinder. Solschenizyns Archipel Gulag und der Text Menschenrechte – ein Jahrbuch für Osteuropa .
    Winfried war ein Mensch, der individuelle Befindlichkeiten für unwürdig hielt angesichts der historischen Lage. Er erweckte Gregors zwischen Kartoffelknollen und Begonienzwiebeln zum Schlummern gebrachten Enthusiasmus wieder. Sie teilten ihren Optimismus, und das machte sie froh, doppelt zuversichtlich, wie sie des öfteren sagten.
    Zuerst entwickelten sie sich zu überzeugenden Herausgebern, im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie gaben alle Schriften heraus, verteilten sie in selbsterstellten Kopien. Sie tippten sie ab, wieder und wieder. Sie kamen durch diese Gemeinsamkeit weder auf die Idee, ihre Befürchtungen in Alkohol zu ertränken oder in jeder anderen Form von Schweigen, noch verdrängten sie ihre Ängste im wilden Tippen auf der längst altersschwachen Schreibmaschine, bei der zuerst das S und dann das D zu haken begann,

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