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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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einzurichten, aber die Einsamkeit war wie die Hitze, die den Pflanzen Farbe und Wasser entzog. Sie goß dreimal am Tag den Garten, sie ließ zweimal im Monat den Wasserwagen kommen und die Zisterne auffüllen, sie erwartete sehnsüchtig das Ende des Sommers und die ersten kühlen Tage Anfang September. Um diese Zeit herum mußte der gota fría kommen, der kalte Tropfen, der den Herbst ankündigte.
    Es hatte diesen Moment reiner Abstoßung gegeben, den Impuls, dem Menschen, der einem am nächsten stand, weh zu tun, und nun fehlte jede Ablenkung gegen das Wuchern ihrer eigenen Gedanken, gegen die übriggebliebenen Bilder, die sich wie Ungeziefer hineinfraßen in ihren Verstand. Der ihr geradeso bereitwillig zur Flucht erschien, wie ihre Erzfeinde in der Küche vorm Licht flüchteten.
    Je kränker Michael geworden war, je stärker die Wahnvorstellungen sein Gehirn überschwemmt hatten, desto klarer, sicherer und gefaßter hatte sie sich gefühlt. Die große Aufgabe lag nicht im Bewältigen dessen, was ganz anders war als man selbst. »Stehst du mir bei?«, hatte er sie einmal gefragt, in einem lichten Moment. »Ja«, hatte sie gesagt. Er hatte sich bedankt, leise und ahnungsvoll, sie nicht angeschaut, nur ihre Hand gehalten, irgendwann seinen Kopf an ihre Schulter fallen lassen, so hatten sie beieinandergesessen. Sie hielt seinen Kopf, sie drückte ihn an sich, sie rang, ihre Fassung wiederzufinden, je länger er weinte.
    Die große Aufgabe lag darin, der eigenen Tochter das zuzugestehen, was man sich selbst versagt hatte.
    Senta wußte, sie konnte sich Sachen verabreichen, um nicht nachdenken zu müssen. Oder sie konnte nachdenken. Aber sie konnte nicht vor sich selbst flüchten, in irgendeine Ritze in der Wand. Sie saß lange Zeit still im Schnarren der Zikaden, im wandernden Licht der Sonne, im silbrigen Rauschen der Olivenbaumblätter und versuchte, in den Geräuschen und den Bewegungen ihres Gartens etwas zu finden, das ihr eine Antwort gab.
    Sie nahm jeden Abend etwas, um schlafen zu können, und wachte auf, wie man nach künstlichem Schlaf aufwacht, abrupt, überrascht und unausgeschlafen. Das einzige, was sich gefüllt anfühlte, waren ihre Tränensäcke. Die aufgestaute Wärme des Körpers unter der Decke. Einfach liegenbleiben. Wozu aufstehen? Ein Buch nehmen und den ganzen Tag lesen, den Verstand an das Schwarz der Buchstaben heften, Punkt, Komma, Seite umblättern, alles in Ordnung.
    Aber ihre Selbstdisziplin siegte. Aufstehen, sich zurechtmachen, eins ihrer weiten Kaftankleider anziehen, die kühlten und schützten, den Kaffee zubereiten, auf die Terrasse setzen, den Tag begrüßen. Michael Blumen bringen, den Gedanken an Katarina nicht denken, Fliegen aus dem Wasser fischen, mehr Wespen als Fliegen, schwimmen gehen. Den Sonnenschirm unten aufspannen, auch wenn niemand seinen kühlenden Schatten genoß, am Anbau vorbeigehen, aus dem kein Klavierspiel drang, vom Oleander einen Zweig pflücken, den Rest der Einfahrt hinunterlaufen, das Tor aufschieben, den Drehverschluß am Briefkasten öffnen, die Post der letzten Tage herausnehmen, nur Werbung und Telefon, immer die kleine Hoffnung: ein Brief, ein kleiner handschriftlicher Gruß, Hallo, Mama, leider nichts, den Drehverschluß schließen, den Wunsch vergessen. Das Tor hinter sich zuziehen mit Blick zu dem schmalen Holzbrett am Toreingangsstein, in das der Grundstücksname eingebrannt stand. Michael hatte ihn ausgesucht. Übersetzt hieß es: Meine kleine Sehnsucht.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag etwas.
    Das Tor schließen, auf dem Grundstück bleiben, als müsse man sich schützen vor dem, was da liegt. Näher herangehen, am Tor entlang. Die ausgelatschten Bastsandalen ihrer Tochter.
    Die hatte sie hier liegenlassen, nebeneinander geworfen, eine halb über der anderen, als hätte diese einen Sieg über die darunterliegende errungen. Senta hatte sie die ganze Zeit über nicht dort liegen sehen.
    Sie überlegte nicht lange, dann schob sie das Tor auf, ging zu den Sandalen, hob sie hoch und schleuderte sie weit über die Straße, noch über den Stacheldrahtzaun, der die Schafe umschloß, die gerade nicht zu sehen waren; die Schuhe flogen wie taumelnde Vögel beim ersten ungelenken Flug und fielen weit voneinander getrennt ins bastsandalenfarbige Gras.
    Ihre Mutter hatte ständig Dinge geworfen. Das Bild kam ihr entgegen, so wie ihr die Präsenz ihrer Tochter entgegengekommen war.
    Ihre Mutter hatte Tassen an die Wände geworfen, Teller auf den

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