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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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wie Süßwasser oder Luft, sie küßte ihren Mann mit geschlossenen Augen und verließ, nicht ohne Erleichterung, das Zimmer.
    Während sie Jorges Nummer wählte, hielt sie sich eine Hand vor den Mund und wußte, daß das Gefühl der Kälte, das sie auf ihren Lippen zu schmecken meinte, nachlassen würde, aber nicht die Erinnerung, daß ein Mensch seinen Geruch verloren hatte, das Flüchtige, das stets Bittersüße, das Einzigartige, für das es keine Worte gab, das aber eines jeden Wesen auszumachen schien.

K atarina kam als erste und blieb als letzte. Ihre Brüder reisten am auf den Todestag folgenden Morgen an, zuerst Martin und Markus, am Nachmittag Michi Junior und Malte. Es war das erste Wiedersehen in Spanien, bei dem alle fünf Kinder beisammen waren, und es war der Jüngste, Malte, der es mit seiner leichtfertigen Art und seinem feinen Empfinden für die Stimmungen der Mutter aussprach: »Mußte Papa erst gehen, damit das klappt.«
    Dank Jorges geistesgegenwärtiger Hilfe fragte nach der Einäscherung und der Abschiedszeremonie niemand nach der Urne, auch das deutsche Konsulat nicht. Beim Totenmahl im Dorfrestaurant spielte der argentinische Gärtner auf der Trompete, begleitet von einem chilenischen Waldarbeiter, der die Kordillieren überquert hatte und in Bolivien aufforstete, nun aber gitarrespielend der Liebe wegen nach Spanien gekommen war, sowie einem Schweizer mit kolumbianischen Wurzeln, der einen Leninbart trug, schwarz-weiße Lackschuhe und einen Schmelzbariton besaß – die drei brachten den traurigsten Tango zustande, kitteten mit ihrer Musik die noch offenen Wunden des Verlusts, waren eine ins Tangokleid gehüllte Therapiestunde des Abschieds. Sie spielten, bis der letzte Gast des Dorfes gegangen war. Und dann begleiteten sie mit ernsthafter Gentlemengroßzügigkeit Senta und ihre Kinder hoch bis zum Grundstück, umhüllten die Trauernden mit ihrer überhaupt nur zur Tröstung erfundenen Musik.
    Sentas Bruder Peter reiste aus Australien an, wohin er sich zurückgezogen hatte, um weit ab von Europa ein anderes Leben führen zu können. Er war gerade zum dritten Mal geschieden worden, daher kam er allein. Hans-Olaf Semke und Sabine Meier, die beiden Anwälte der Berliner Sozietät, bekundeten ihr Beileid und umsorgten Senta zwei Tage lang mit unkomplizierter Anteilnahme. Anton kam nicht, er wollte nicht mit dem Flugzeug fliegen, er rief nur jeden Tag um eine ähnliche Uhrzeit an. Am Ende eines jeden Gesprächs übernahm Lydchen noch einmal das Telefon und erkundigte sich auf ihre bescheidene, aber für Senta zu frömmelnde Art nach ihrem Befinden, vor allem nach ihren Eßgewohnheiten und schloß mit der Mahnung, unbedingt genügend Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Katjuscha berichtete, daß das Lydchen mit ihrer Bereitschaft, anderen zu dienen, wie eine lebensverlängernde Maßnahme für Anton zu sein schien. Sie würde nie Nadja ersetzen, den russischen Weltschmerz, die Melancholie, das Selbstgerechte darin – als ihre Tochter das so leichtfüßig erzählte, versetzte es Senta einen Stich – aber durch das gute Essen, das sie zubereitete, ihre Herzlichkeit, ihren Glauben und diese außerordentliche Demut vor dem Leben hatte sie es geschafft, Antons Lebenswillen zu stärken. Er genoß, aß, scherzte mit Lydchen, führte sie aus ins Theater, schenkte ihr eine teure Uhr.
    Peter packte nach drei Tagen und wenigen Worten, die sie in der turbulenten Zeit hatten wechseln können, wieder seinen handgepäcktauglichen Koffer und flog gen Südhalbkugel ab. Er verspüre kein Bedürfnis, sagte er beim Abschied zu Senta, ins enge, verschlafene Berlin zu fahren. Er lächelte in der charmanten Hilflosigkeit, die Senta für ihren kleinen Bruder zeitlebens einnahm. Er bevorzuge sein Leben im Observatorium – er klang fast schüchtern, als er das sagte – und bat sie anschließend um Entschuldigung. Sie wußte nicht,wofür er sich entschuldigen wollte, denn im Wissen um ihre eigene Unnahbarkeit verzieh sie ihm die seine sowieso. Sollte er das Wesen des Urknalls erforschen, den Blick in die Tiefen des Raumes richten, dort nach Harmonie suchen, nach allgemeinen und elementaren Gesetzen, wenn das sein Weg war, mit der verworrenen, komplizierten Welt der Zwischenmenschlichkeit klarzukommen.
    Auch in den Tagen, Wochen danach kam niemand vorbei, um sich nach dem Verbleib der Urne zu erkundigen. So ließ Senta von dem argentinischen Trompetenspiel-Gärtner und seinen musikalischen Freunden ein tiefes Loch am

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