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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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nicht um den Mythos, er kannte ihn wohl gar nicht. Über Jahrtausende und einige Kulturen hinweg symbolisierten die Zikaden die menschliche Seele, die wiederkehrt. Platon schrieb über sie im Phaidros. In ihnen stecken die Musen, von physischen Bedürfnissen befreit, auf ihrer Suche nach Erkenntnis. Sie schaffen es, weit zu kommen. Aus den Larvenhäuten kann eine Arznei gewonnen werden, die – ja, kein Witz – gegen Ohrenschmerzen hilft. Ihr Gesang, schrieb eine Dichterin, sei leider unmenschlich geworden, und damit bringt sie es auf den Punkt. In dem Augenblick, da die Brautanlockung ein Ende hat, in dem Moment hören wir die Stille. Die Achtsamkeit, auch die Einsamkeit, die darin steckt, ermöglicht es, in sich hineinzuhorchen. Das können Frauen bekanntlich besser als Männer. Heutzutage ließe sich sagen, daß es unser Glück (der Zikaden) ist, daß sie uns die Stille hören lassen. Eine Ruhe. Einkehr. Nicht immer lauthals von allen Reisen, den Höhen oder Tiefen der Erkenntnis singen zu müssen. In der Stille liegt die Chance, einen Gedanken zu fassen zu kriegen. Nachdenken tut uns gut. So scheint es mitunter heilsam zu sein, sich nicht zu verausgaben, im verzweifelten Schrei für ein Quentchen Sex – es lockt auch weniger parasitäre Feinde an.‹
    Senta riß den Artikel aus, genoß das Knirschen des Papiers, den fehlenden Widerstand. Sie aß frische Sauerkirschen vom Stiel, spuckte die Kerne über die Terrasseneinfassung. Sie saß in ihrem Garten, im ewigen Schnarren und Zirren, das sie nie ausschließlich als männliches Schnarren und Zirren wahrgenommen hatte, und horchte auf das an- und wieder abschwellende Geräusch, warf einen Stiel, spuckte einenKern, mal war das Gerassel direkt am Olivenbaum vor ihr, mal weiter unten, dritte, vierte Terrasse.
    Der gota fría ließ die Temperatur rapide sinken. Sie aß, spuckte und hörte mit einem Mal, wie anstrengend und mühselig das klang, was die rindenfarbigen, im Sonnenlicht schillernden Zikaden da machten, Tag ein, Tag aus, wie sie sich abmühten, ihre Flügelchen aneinanderzureiben, nicht ahnend, daß sie dafür auch noch aufgefressen wurden.
    Senta knabberte das Fleisch vom Kern, spuckte den Kern aus, der kalte Tropfen fiel, die Zikaden verstummten, der Wind hörte auf, es regnete in vollkommener, ausgewogener Stille. Es lag etwas Großes in dieser Stille, auch in der Einsamkeit hier auf dem Grundstück. Sie versuchte noch, sich dem sie anstürmenden Gefühl zu verweigern, es fühlte sich zu gut an, frei, leicht, beglückt, das durfte nicht sein, das konnte sie niemandem sagen, vielleicht war es ein Zeichen dafür, daß ihr Verstand sich langsam, aber sicher über den langen Sommer hinweg verflüchtigt hatte, einfach ausgedörrt war, und sie hier zur einsamen Alten verkam, die Selbstgespräche führte, wirre Gedanken dachte, schließlich verwahrloste, worum ihre Kinder sich dann zu kümmern hatten. Ihr Verstand wollte, so dachte sie dann, lediglich mal eine Auszeit nehmen, sich zusammen mit all der Beherrschung, die sie Zeit ihres Lebens kultiviert hatte, eine Pause gönnen. Sie mußte sich für niemanden mehr beherrschen, nichts kontrollieren, planen, steuern, klären. Sie war, vielleicht das erste Mal in ihrem Leben, frei. Nur sie war übrig in ihrem Leben, jetzt gerade. Natürlich gab es an den Rändern dieses Universums unzufriedene Außenposten, der wortlose Abschied von Katarina, daß sie kaum etwas über die Leben ihrer Söhne wußte, ihr alter Vater in Berlin. Aber führten sie alle nicht ihre eigenen Leben? So, wie sie es für sich wollte? Ein eigenes, vollkommen selbstbestimmtes Leben? Konnte sie das, war sie dazu fähig? Wo war ihr Leben,wo war sie selbst hin? Kurz spürte sie den altbekannten Impuls, aufzustehen, etwas zu holen, aufzuräumen, herzurichten. Sich von dieserlei Gedanken flugs abzulenken. Warum über Gründe nachdenken, warum diese Büchse öffnen, unbekannte Geister rufen. Aber weiterhin erleichtert konnte sie feststellen: Es ist niemand da, der etwas braucht, der sich Ordnung wünscht oder Hunger hat. Sie bemerkte einen Anflug von Ironie, während sie sich selbst wie ein ewig tüchtiges Insekt oder Tier herumflitzen sah, immer bemüht, die Wünsche anderer zu erfüllen, die Sorgen zu lindern, Forderungen zu erfüllen, kurz, zu funktionieren. Nahezu perfekt hatte sie sich selbst zu einem funktionierenden Organismus gemacht, für ein Quentchen Liebe. Nicht sie war bei Michael geblieben, wie sie zu Katarina gesagt hatte in dem

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