Das Glück der Zikaden
Bürgersteig, sie hatte einen von Sentas Winterlederstiefeln gegen die Haustür gepfeffert. Anton hatte irgendwann mal davon erzählt, wie Nadja das Glas mit den Kaulquappen aus dem Zugfenster geworfen hatte. An diese Episode hatte Senta keine Erinnerung gehabt. Aber sie hatte nicht die Schlüsselbunde vergessen, die Nadja geworfen hatte, einer war in der Erde der Topfpflanze gelandet, einer am Schrank abgeprallt. Tage später lag der Spiegel, mittig zwischen den hölzernen Türen, in Scherben, ohne Zusammenhang. Der Schmiß im Holz von einem der Bärte wargeblieben. Die Unvorhersehbarkeit der Ausbrüche. Die Unberechenbarkeit, wen oder was es traf. Aber das war nicht das, was weh tat. Es war die Reue, die ihre Mutter in den nächsten Tagen zusammengefaltet durch die Wohnung schleichen ließ und die es machte, daß Senta mit ihrer Mutter litt und sich zusammen mit ihr schämte und die Großherzigkeit ihres Vaters bewundern lernte, wie er nonchalant und schweigend über jeden neuen Ausfall hinwegsah, als hätte es ihn nie gegeben.
Sie war drauf und dran, über die Straße zu gehen, den Stacheldraht zu übersteigen, die Bastsandalen einzusammeln.
Sie war schon auf dem halben Weg, da sagte sie sich, daß ihre Tochter nicht wiederkommen würde, um ihre Schuhe zu holen. Sie würde ihre Bastsandalen nicht vermissen. Sie hatte andere Schuhe, andere Fortbewegungsmittel. Sie hatte ein Leben. Dort wechselte sie womöglich Gemütslagen wie Schuhe, Gesichter und Geschichten. Ein Mensch, auf den kein Verlaß war. Ihre Tochter konnte alles sein, sie konnte schon längst vergessen haben, was hier passiert war, sie konnte sich neu erfinden, zwischen Internat und Berlin, zwischen hier und irgendwo. Katarina war schlau und schnell. Ansonsten verschlossen. Und Senta ahnte, daß ihre Tochter ein viel ausgetüftelteres Versteckspiel zu spielen imstande war als das, das sie Zeit ihres Lebens gespielt hatte.
Sie, Senta, hatte sich nur versteckt, um nie in die Schußlinie zu geraten, wenn gerade wieder etwas flog. Sie hatte sich und ihre Bedürfnisse versteckt, wie andere ein teures Auto in einem Schuppen verstecken, damit der neidische Nachbar kein Futter bekommt. Nur niemanden aufregen. Nur nicht eine Eifersucht wecken, die Eifersucht, daß die Tochter noch ein Leben vor sich hatte, während Nadjas sich von Tag zu Tag gen Ende vorzählte. Vorne auf dieser, ihrer Bühne, da hatte Senta die Rolle der freiwillig und gern Verzichtendengespielt, eine Rolle, von der sie sicher glaubte, daß sie ihr doch so etwas wie Zuneigung und Nähe, Tochterliebe zumindest, einbringen mußte.
Senta hob einen handtellergroßen Stein auf, der mittig in der Auffahrt lag, und war drauf und dran, ihn weit hinter den Bastsandalen herzuwerfen. Sie trug ihn mit nach oben zum Haus.
Ein paar Tage später, als sie auf der Terrasse vor der Küche im Korbstuhl saß, las sie in der spanischen Tageszeitung, die sie sonst eher überflog, auf der letzten Seite unter der Rubrik Information der Woche, die uns bewegt: ›Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber. Ausspruch des griechischen Dichters Xenarchos. Bekanntlich sind es nur die Männchen, die das immerwährende Hintergrundgeräusch unseres Lebens erzeugen. Natürlich zirpt die männliche Zikade, um Weibchen anzulocken und Reviergrenzen zu markieren. Ferner sind Protest- und Alarmlaute bei Berührung bekannt. Es ist noch nicht geklärt, warum die Männchen tagsüber, am liebsten auch in der Dämmerung fast ununterbrochen zirpen. Um zu zirpen, öffnen die Tiere beide Flügel und legen den rechten vorderen über den linken. Wenn die Flügel dicht aneinanderliegen, reiben sie mit einer harten Kante, dem Plektrum, das sich auf der Spitze des linken Flügels befindet, gegen eine Reihe kleiner Zacken an der Unterseite des rechten Flügels. Während das Plektrum Zacke um Zacke trifft, beginnt es zu schwingen und mit ihm fast der gesamte Flügel. Diese Schwingungen verursachen Druckvariationen in der Luft, die Schallwellen, die wir hören. Das Rufen der männlichen Zikade nach einem paarungsbereiten Weibchen hat allerdings seinen Preis. Denn es lockt auch Fliegen an, die ihre Eier in der Grille ablegen. Diese Eier entwickeln sich zu parasitären Larven, die sich in die Grille fressen und sie letztendlich töten. So gesehenerscheint das Schweigen der Weibchen als lebensverlängernde Maßnahme. Napoleon ließ 300 Bienen auf seinen Krönungsmantel sticken, meinte jedoch eigentlich Zikaden. Er scherte sich
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