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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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mißlungenen Moment vorsichtiger Ehrlichkeit; Michael war bei ihr geblieben, und das hatte sie bleiben lassen. Er hatte es gewußt. Er hatte es immer gewußt, daß sie aus diesem Grund bei ihm geblieben war, nicht, weil sie ihn liebte. Er hatte es in seinem Jähzorn ausgesprochen, und es schmerzte, als sie an den Augenblick im Schlafzimmer zurückdachte. Er hatte es ausgesprochen, und sie hatte es natürlich von sich gewiesen, wie hätte sie das nicht tun können? Sie hatte versucht, ihm bis zum Schluß seinen Glauben nicht zu nehmen, gar nicht bewußt, denn sie glaubte es ja selbst noch. Aber, was war schon ein ›Ich glaube, ich liebe ihn‹ gegen ein Gefühl. Und ein Gefühl hatte sie, so lang sie zurückdenken konnte, nicht gehabt. Wäre es besser gewesen, ihm die Hoffnung zu nehmen? Wäre, hätte, was soll das, dachte sie dann mit entschiedener Kraft. Vielleicht weiß ich gar nicht, was ein Gefühl ist, ein wahrer Schmerz, eine hingebungsvolle Liebe. Doch, beruhigte sie sich selbst, natürlich weiß ich es. Ich weiß, wie ich Gregor geliebt habe, hundert Jahre her, aber ich weiß es noch. Sie schloß die Augen und genoß die Stille, und langsam hörte ihr Verstand auf zu plappern. Und wie aus demhintersten Eck ihres Gartens kam dieser rätselhafte Magnetismus auf sie zu, Erinnerung und Gegenwart in einem, die physische Sehnsucht nach diesem anderen Körper, nach Gregors Haut, seinem Geruch, seiner Stimme, was sie alles in allem nur ein Mal aus der Nähe erlebt hatte, an sich gespürt hatte, wobei aus dieser Einmaligkeit gleich ein neues Leben entstanden war, was aber offensichtlich nie das Eingebrannte dieser Wahrnehmungen aus ihrem Körper gelöscht hatte, im Gegenteil, die Anziehungskraft, die wer weiß woher kam oder in ihr steckte, fing sie ein, hielt sie fest, diese grenzenlose Sehnsucht, die schmerzte und sich dennoch wie der Regen anfühlte, weich, ruhig, voller Zuversicht. Die Art von Zuversicht, daß der Frühling kommt, oder jetzt, der Herbst und Winter und dann der Frühling.
    Wie ein Schwamm nahm der trockene Boden das Wasser auf. Es war der 1. November 1989. Es hatte besonders lang gedauert, bis der Wetterwechsel kam, aber als er da war, hörte er erst einmal nicht mehr auf.

E s polterte. Es knarrte, knallte. Es war wieder still.
    Es quietschten die Gummisohlen der Etagenkellner, wie sie sie nannten, auf dem Boden vor den Zellen. Hin und her. Den Gang rauf und runter. Es knallte wieder, so, wie die Türen knallten, wenn sie ganz geöffnet mit ihren Eisenriegeln gegen die Wand krachten.
    Dann klackerte, quietschte und knarrte es bei ihm. Er sah keinen Menschen, keine Hand, keinen Fuß, kein Tablett im Schlitz, Eisen im Loch, nur hörbar das metallische Klimpern der hundert Schlüssel. Seine Zelltür wurde dreißig, vierzig Zentimeter weit geöffnet, blieb offenstehen. Das Quietschen der Etagenkellnersohlen entfernte sich.
    Gregor stand sehr langsam von der Pritsche auf, strich sich seinen Bart glatt, der mehrheitlich weißgrau war und einen ausgefransten Dreieckszipfel hatte.
    Er zog mit den Füßen seine Schuhe zu sich heran, bedächtig und konzentriert, als gelte es, das alles unauffällig und unbemerkt zu tun, er schlüpfte in jeden Schuh, bückte sich, wobei sein Bart gefaltet wurde, band die Schnürsenkel zu, als habe er noch nie zuvor Schleifen gebunden. Er machte jeweils einen doppelten Knoten. Er stand auf, schaute in Richtung Tür, drehte sich zurück in den Schlauch, den Tunnel der vergangenen Jahre, und stockte. Dann machte er einen Schritt an die Pritsche, zog sein Tagebuch hinter der Matratze hervor, klemmte es unter die linke Achsel. Er atmete ein letztes Mal die abgestandene Luft ein, hörte das Knallen derTüren, weiter den Gang hinunter, und entschied sich, langsam und bewußt, fast bis an die Grenze von etwas, was man einen Genuß nennen könnte, Schritt für Schritt aus dem Raum hinauszuschreiten.
    Der einzige Grund für das hier mußte sein: Es stand schlecht um seine sozialistische Wahlheimat.
    Sie mußten mit einem Mal uninteressant geworden sein. Ungefährlich auch. Womöglich sogar überflüssig, so überflüssig, daß man sie vorschnell loswerden wollte, kein Fitzel einer Staatsgefährdung hing ihnen mehr an, von konterrevolutionärer Bedrohung ganz zu schweigen. Höchstens noch dachte man, daß sie sich eines Tags rächen wollten, Wiedergutmachung also, so was in der Art. Er schaute sich um nach seinem Freund.
    Er sah Winfried das erste Mal seit drei Jahren wieder. Auch

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