Das Glück der Zikaden
einem Fliegengitter beschirmten Wohnzimmerfenster wohl nicht wahr, drehte sich zur Seite, bog vom Weg ab, ging quer ein paar Schritte durchs Kräuterbeet, kletterte an einer niedrigen Stelle die Terrassenmauer hoch und hockte sich neben Michaels Betonplatte auf einen Stein.
Senta blieb hinter den Maschen des Gitters stehen und bewegte sich nicht. Ihre Tochter trauerte um ihren Vater, der ihr wenig Vater gewesen war und dann noch nicht mal ihrleiblicher. Sie, Senta, hatte es versäumt, die Wahrheit zu sagen. War es wichtig? Sie beobachtete ihre Tochter dabei, wie sie Johannesbrotschoten aus dem Gras klaubte und auf die Betonplatte legte. Ein kleiner Augenblick, eine Ahnung eher, oder ein Déjà-vu, wie sie als Mädchen nichts von ihrem Vater verstanden hatte, weil er unerreichbar weit weg gewesen war, im Krieg, nach dem Krieg, in der Redaktion seiner Zeitung, in seinem Zimmer, am Weltempfänger, hinter Fachbüchern, Lexika, geheimnisvoll bis heute. Wen liebte er? Wen haßte er? Wer war er wirklich?
Sie konnte nicht wissen, daß Katarina ganz ähnliche Fragen zusammen mit den Johannesbrotschoten gen Betonplatte schickte.
Sie folgte einer Gemütsbewegung, einer Weichheit, womöglich der alten Sehnsucht nach Verzeihen, und ging hinaus in den Garten.
»Was willst du eigentlich so machen?«, fragte sie ihre Tochter mit einem harscheren Tonfall als gewollt und blieb hinter ihr unweit des Johannesbrotbaumes stehen.
Katarina drehte sich langsam um. »Muß ich was machen?«
»Jeder Mensch muß was machen.«
Katarina nickte.
»Du hast nicht den Ehrgeiz deines Vaters geerbt.«
»Ja, leider.«
»Vielleicht ist es schon ein Schritt, daß du es bedauern kannst«, konstatierte Senta.
»Nein, ausschließlich du bedauerst es«, gab Katarina zurück und stand auf.
»Ich?«
»Sag mir doch einfach, wenn du hier wieder allein sein willst. Mit deinem Mann im Grab, mit deinem Haus, mit ich weiß nicht was.«
Katarina schaute sie an. Senta erwiderte den Blick. Ihre Tochter hatte ein buntes Seidentuch lose um den Körper gebunden. Sie zog es mit einer Geste, die ihre Überflüssigkeit nicht verhehlte, am Hals zurecht. Ihre kurzen Fingernägel, die vom Klavierspielen kräftig geäderten Hände. Ihre Unschuldigkeit und daß sie ihr Leben noch vor sich hatte. Wie sie barfuß und etwas breitbeinig auf dem von der Sonne erhitzten Erdboden stand. Ohne im mindesten zu wissen, was dieser Wust aus Leben zuallererst war: Verzicht, endloser Verzicht auf das, wonach man sich am meisten sehnte.
Senta holte Luft und sagte: »Michael war nicht dein Vater.«
Katarina schaute sie nur weiter an, mit der ihrem Gesicht eigenen Tendenz zur Ratlosigkeit. Vielleicht war es auch die Fähigkeit, sich mit jedweder Situation sofort abfinden zu können, was sie von Anton geerbt haben mußte.
»Das wollte ich dir immer sagen.«
»Das wolltest du mir immer sagen«, nickte Katarina, »so wie: Ich habe mir gestern eine neue Hose gekauft. Wollte ich dir immer sagen. Oder: Das Auto springt nicht an. Oder: Nu ist das Bier noch aus.«
Senta spürte eine Erleichterung darüber, daß ihre Tochter so kühl und rational mit der neuen Information umzugehen wußte.
»Die Schoten kann man auch essen, nicht?«, nickte Katarina mit einem nur zart wahrnehmbaren, daher Senta nicht allzu beunruhigenden Zynismus. »Jetzt weiß ich, wie sie heißen. Johannesbrot. Gut zu wissen, daß dir dieser andere Mann, wer auch immer das war, dann ja auch nicht so wichtig ist«, sagte sie im Wegdrehen.
»Er weiß nichts«, konterte Senta und starrte auf das Betonplattengrab. Katarina hatte die Johannesbrotbaumschoten wie die Finger zweier Hände angeordnet, am Rand der Platte. Es sah aus, als greife ein braungebranntes Skelett um die Ecke herum.
Katarina war schon an der zweiten Terrasse angekommen.
Von dort aus rief sie: »Hast du wenigstens Michael jemals die Wahrheit gesagt?«
»Warum?«
»Weil er es verdient hätte.«
»Ich bin bei ihm geblieben«, sagte Senta so leise, daß Katarina es nicht gehört haben konnte. Ihre Tochter verschwand zwischen den halbgeschlossenen Fensterläden der Gästehaustür, um eine halbe Stunde später wieder herauszutreten, ihren Koffer in der Hand. Das Taxi wartete am Tor zur Einfahrt, und Senta hatte es in einer undefinierbaren Lähmung nicht weiter als bis zur Terrasse an der Küche geschafft. Dort stand sie und sah ihrer Tochter dabei zu, wie sie grußlos vom Grundstück verschwand.
S enta versuchte, sich im Alleinsein an diesem Ort
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