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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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fähig war, gerade bei den Bildern von Männern, die in Jeans und dünnen Jacken, mit Locken und Schnauzbärten auf der runden Kuppe der Mauer saßen und lachten, weinten, die Fäuste reckten und sangen, alles in allem so wirkten wie Cowboys, die gemeinsam auf einem zahmen, gar nicht mehr störrischen Pferd ritten. Bei diesen Bildern erfaßte ihn das Staunen, das aber immer schnell in ein Schaudern hinüberglitt, womit das Unwohlsein wieder einsetzte und sich für einen weiteren Tag nicht hatte bezwingen lassen.
    Lydchen saß, wie immer um diese Zeit, für eine halbe Stunde in ihren anderthalb Mädchenzimmern hinter der Küche, säuberte und feilte ihre Fingernägel, jeden vierten Tag lackierte sie sie neu, nie farbig, nur durchsichtig, wozu sie dann insgesamt ungefähr eine Stunde brauchte. Wobei dieses Ritual eher einer Meditation am Ende des Tages glich als einer äußerlichen Verschönerungsmaßnahme.
    Senta konzentrierte sich auf ihre Fremdheit, den Überschuß an Süden in ihr. Sie war kurz davor, der Abstoßung klein beizugeben und wieder vom Haus wegzugehen, zurück in das Hotel. Da hörte ihre Tochter im Erdgeschoß mit dem Klavierspiel auf, und die Stille dehnte sich nicht aus, sie zog die Dunkelheit zusammen, und in dieser Dunkelheit setzte Senta einen Schritt auf das leicht zur Mitte hin gerundete Kopfsteinpflaster der Straße. Katzenköpfe aber regten sie schon immer zum Gehen an, sie konnte nicht stillstehen auf ihnen, und so ging sie einfach weiter, weiter auf ihr Eckhaus zu. Lydchen, in ihrer Kammer, die Feile am rechten Mittelfingernagel, hielt einen Augenblick inne, auch weil das so gewohnte Klavierspiel unterbrochen war, und auch, weil sie in solchen Momenten immer als erstes damit rechnete, daß Anton über einem seiner Horoskope zusammengesunken sein könnte.
    Dem war nicht so. Anton atmete, wie er seit nun über achtzig Jahren geatmet hatte, etwas flach und voller Pragmatismus. Er hatte mit dem Abspannbild der Tagesschau seine Deklinationsberechnungen beendet, den letzten Aspekt zwischen dem vierten und dem neunten Haus gezogen und zur Erinnerung für die Aktrice unten links in die Ecke geschrieben: Erstellt am 15. November 1989 von Anton Neudecker. Er hatte widerstanden, noch eine knappkantige Aufmunterung hinzuzufügen, in der Art von: ›Hals- und Beinbruch für Ihre Revue, sie wird, wenn wir den Sternen glauben können, ein wirklich außergewöhnlicher Erfolg.‹ Er mochte nichtmehr lügen. Die Aktrice glaubte ihm alles. Aber ihn langweilte dieser Glaube, der nur die Suche nach Bestätigung des Immergleichen war. Weil sie zweifelte, befragte sie die Sterne. Ohne Zweifel wandte sich niemand diesem Hintergrundgetöse zu. Und sosehr Anton die Berechnungen mochte und schätzte, weil sie ihn mit sinnstiftender Konzentration füllten und keinen Platz für sein nervöses, immer fahriger werdendes Nachdenken ließen, sosehr ermüdete ihn das von seinen Kunden immer deutlicher gewünschte Herauslesen allein von guten Nachrichten, positiven Charaktereigenschaften, glücklichen Konstellationen. »Wir wollen getäuscht werden. Also zählt die Selbsttäuschung immer noch zu unseren unveräußerlichen Rechten«, hatte er letztens zu Lydchen gesagt, »warum sollte ausgerechnet ich gegen dieses Recht verstoßen?«
    Außerdem gab es eine Menge guter Nachrichten in der Welt. In dieser Zeit. Denen konnte er keine hinzufügen.
    Katarinas Hände lagen noch auf den Tasten, seit ihr Spiel gestockt hatte. Ihre Füße standen nicht auf den Pedalen, sondern auf der Matratze, die sie zu Beginn ihres Einzugs unter das Instrument gelegt hatte, alle anderen Möbel hatte sie in die gegenüberliegende Zimmerecke geschoben, möglichst weit weg vom Klavier. Jenen Hügel mittlerweile wurmstichiger Antiquitäten hatte sie mit den doppelten, ehemals weißen Samtvorhängen aus dem Wohnzimmer abgedeckt, wobei sie eine dekorative Gipsbüste des alten Beethoven zum Beschweren der Stoffkante oben auf dem Schrank benutzt hatte. Eine Woche lang hatte Beethoven von oben zu ihr hinübergegrimmt. Dann hatte sie ihn umgedreht und sich wohler gefühlt beim Anblick seiner Kaskadenperücke.
    Mit Katarinas Einzug in ihr altes Elternhaus, der zusammenfiel mit ihrer Rückkehr aus Spanien, hatte eine zarte Freundschaft zwischen ihr und ihrem Großvater begonnen, eine Freundschaft, die damit einherging, daß Anton Katarina das Schach- und sie ihm das Klavierspiel beibrachte. Sie machte beim Schach größere Fortschritte als er am Klavier.

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