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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Winfried hatte sich vom ersten Tag der Haft an einen Bart wachsen lassen, seiner war noch etwas länger als Gregors. Was daran liegen konnte, daß er insgesamt auch größer war. Beide verbargen ihre eingefallenen Wangen, ihre sehnigen Hälse und schmalen Brustkörbe hinter den grauen Haaren.
    Sie sahen sich nahe dem Haupttor, das auch offenstand, niemand war in der Schleuse. Sie gaben sich zuerst die Hand, dann nahmen sie sich in den Arm und hielten sich fest. Sie sagten kein Wort, flüsterten nichts in ihre Bärte, was auch nicht nötig war, sie hatten beide das Gleiche erlebt, sie mußten es nicht noch einmal teilen, denn geteiltes Leid wurde in ihrem Falle nicht halbes Leid, es ging nur darum, die Gefängniskälte aus ihren Körpern zu drücken, die hoffnungslosen Gedanken aus den Windungen ihres Denkens zu pressen und sich daran zu erinnern, was ein jeder von ihnen im anderen hatte.
    Nebeneinander gingen sie durch das offenstehende Tor.
    Keine Menschenseele, die ein Papier sehen wollte. Keiner, der ihnen sagte, wohin.
    Die Straßenbahn fuhr, die Stadt sah aus wie eh und je.
    Erst langsam bemerkten sie, daß es ein bißchen wie im Sommer war, in der Urlaubszeit, wenn viele Menschen nicht zu Hause waren, sondern abgereist. Schließlich, als sie allein im Waggon saßen, kurz vor der Endstation, da rangen sie sich durch, beim Aussteigen den Schaffner zu fragen, wo denn alle hin seien. »Wech«, sagte der nur und angelte eine Graubrotschnitte aus einer leuchtendroten, funkelnagelneuen Plastikklappdose mit aufgedrucktem Logo der Hamburger Sparkasse.

N ur die Fenster im ersten Stock des alten Eckhauses waren erleuchtet, türkisblaues Fernsehflimmern in den Scheiben des Mansardenzimmers. Senta versuchte erst gar nicht, dem Haus, das sie bis vor wenigen Jahren ihr Zuhause genannt hatte, nahe zu kommen. Sie blieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen, die Hände in den Taschen des Mantels. Der Grobputz an der Fassade war rissig und angegraut, der Garten wieder so struppig wie beim Einzug. Der schmiedeeiserne Zaun beugte sich nach vorn, es hatten sich Lupinen ausgesät, ihre Hochhausgerippe standen stolz, aber erfroren bis an den Weg. Im Erdgeschoß brannte keine Lampe im Fenster, es war, als sei niemand dort, aber Senta hörte bis auf die Straße das Klavierspiel ihrer Tochter, ihr typisches Spielen, das als Nachspielen von Komponiertem begann und sich zunehmend in der Improvisation verlor, die Art von Konversation, in die Katarina sich gerettet hatte und dank derer sie sich mit dem Gefühl von Sicherheit betrügen konnte, ständig und unablässig mit ihrer Mutter in einer Art Zwiegespräch zu sein. Anton saß im ersten Stock, im Mansardenzimmer, und errechnete das Horoskop einer hysterischen Aktrice aus Nikolassee, die immer nur eines wissen wollte, dieses Mal, wie ihre Nebenrollenverkörperung in einer bunten Hexen-Revue beim Hannoveraner Publikum ankommen würde. Er saß ausnahmsweise nicht im früheren Kinderzimmer, wo nun sein Weltempfänger und das Schachbrett den alten Kinderschreibtisch zierten, seine Anzüge imSchrank hingen und die astrologische Fachliteratur sowie sein Archiv die schmalen Bücherregale füllten. Er hatte keines der mittlerweile verblichenen Jugendposter abgenommen, keine Pinselei seiner Enkel übermalt, er hatte ihre Bildbände und Karl-May-Gesamtausgaben zur Seite geschoben und seine Bücher neben die windschiefen Ordner gestellt, die alle seine je erschienenen Artikel, Horoskope und Meldungen aus aller Welt enthielten. Etwas nachlässig beschriftet waren sie, standen kreuz und quer durcheinander, was Anton nicht im geringsten interessierte, er wollte die Ordner nur um sich haben, ohne genau zu wissen, warum. Vielleicht als Puffer, vielleicht als Pfand, obwohl er in jeder zweiten Nacht von dem trockenen Staub und der uralten Druckerschwärze einen Reizhusten bekam.
    Weil draußen in Berlin gerade soviel passierte, saß er im Mansardenzimmer und ließ den Fernseher laufen. Er wäre nicht nur nicht auf die Idee gekommen, sich der zunehmend dezimierten Grenze in der Mitte Berlins zu nähern, er vermied es, mehr als nötig daran zu denken. Aber ein Unwohlsein hatte ihn erfaßt, seither, und dieses Unwohlsein, das ihn von morgens bis abends begleitete, ließ sich nur beruhigen, indem er wieder und wieder ähnliche, mehr und mehr sich gleichende Nachrichtenbilder anschaute. Manchmal durchzog ihn ein Schaudern der Verzückung, eine Art patriotisches Staunen, wozu dieses Volk der Deutschen

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