Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
Umgang mit einem größeren Kind üben und mir Mut machen. Für mich würde alles immer einfacher, denn je größer das Kind, desto weniger müsste ich mich zu ihm bücken – und desto mehr könnte es für mich tun. Die Selbständigkeit meines Kindes würde mich nicht be-, sondern entlasten. Mein Kind könnte mir nicht nur weglaufen, es könnte mir auch helfen.
»Mira, bringst du mir bitte eine Tasse?«
»Klar, mach ich!«, und da sprang sie schon weg, meine kleine Freundin.
Die Kinder behandelten meinen Rollstuhl wie die Tatsache, dass Simon nicht ohne seinen Teddy einschlief oder Melanie keinen Tee mochte. Die Ines sitzt im Rollstuhl, das ist so und Punkt.
In dieser wunderbaren Truppe war mein Schatz bestens aufgehoben. Trotzdem heulte ich Rotz und Wasser, als ich ihn das erste Mal verließ. Und auch beim zweiten und dritten Mal. Einmal fuhr ich zu Ikea, um mich abzulenken. Ich hatte dann noch ein bisschen Zeit und gönnte mir ein Stück Kuchen. Da wurde mir auf einmal klar, dass ich nun viel mehr Freiheit hatte. Mit einem breiten Grinsen holte ich Tim ab, der mich strahlend begrüßte, die Arme weit offen für seine Mama, deren Herz sich bei diesem Anblick mal wieder verflüssigte.
Leider wurde ich im Ministerium als Halbtagskraft nun in einer anderen Abteilung eingesetzt. In der Personalabteilung klingelte das Telefon nur selten. Es gab auch wenig Parteienverkehr, und Termine brauchte ich nicht zu vereinbaren. Stattdessen hatte ich viel zu tippen. Das gefiel mir nicht besonders, und ich war froh, dass ich nur einen halben Tag dort verbrachte, der sich dafür wie ein ganzer anfühlte. Meine Kollegen waren nett, und im Großen und Ganzen war ich zufrieden, wenn auch nicht begeistert wie in meinem ehemaligen Referat.
Einmal traf ich eine Kollegin von damals.
»Ach, Sie sind schon wieder da! Wie alt ist Ihr Kind denn?«
»Ein Jahr.«
»Und wer passt jetzt auf ihn oder sie auf?«
»Tim ist in der Krippe.«
»So früh!« Sie riss die Augen auf.
Mach mir ruhig ein schlechtes Gewissen, versuch es, du wirst es nicht schaffen, dachte ich und sah das fröhliche Gesicht meines Sohnes vor mir. Was konnte ihm Besseres passieren, als im Kreis von anderen Kindern aufzuwachsen?
»Ich war als Kind auch in der Krippe«, bewaffnete ich mich mit einem entwaffnenden Lächeln. »Mir hat das damals sehr gut gefallen.«
Gelegentlich bot ich Markus an, nach der Arbeit im Ministerium zu ihm zu fahren und ihm im Laden zu helfen.
»Nein danke, das ist nicht nötig«, lehnte er ab.
Das war mir auch recht – ich riss mich nicht darum. Bis heute weiß ich nicht genau, was dahintersteckte. Manchmal denke ich, es lag daran, dass er vermeiden wollte, mit Zigarette erwischt zu werden, denn das Rauchen hatte er laut eigener Auskunft mal wieder aufgegeben, und wenn er abends nach Rauch roch, lag das daran, dass er sich in verqualmten Räumen aufgehalten hatte.
Mir blieb verborgen, dass der Laden längst nicht mehr so gut lief wie zu Beginn – und wie er hätte laufen können. Markus hätte Werbung machen müssen, Flyer verteilen, Verkaufsaktionen planen. Woher sollten die Leute wissen, dass es diesen coolen Laden gab, wenn er nichts unternahm, um das publik zu machen! Die Marketingabteilung von Birkenstock hatte uns Kundschaft bis aus Saarbrücken prognostiziert bei diesem erfolgversprechenden Konzept des Spezialgeschäfts mit Alleinstellungsmerkmal. Doch ein bisschen was musste man schon dafür tun. Es genügte nicht, morgens den Laden aufzusperren und bis abends hinter der Theke zu hängen, Musik zu hören, im Internet zu surfen, zu rauchen und auf Kunden zu warten.
Als ich Markus eines Mittags mit meinem Besuch überraschen wollte, kippte ich fast um. Ein Bild hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Er saß hinter der unordentlichen Theke, und in den Ecken stapelten sich die Kartons. Die Pflanzen waren vertrocknet, die Regale mit einer Staubschicht bedeckt. Die schöne Idee, die wir mit so viel Liebe in die Tat umgesetzt hatten, war nur noch ein schäbiger Abklatsch. Hier wurde kein Kunde zum Kaufen animiert, sondern zum Weglaufen. Ich war entsetzt.
»Markus! Wie sieht es denn hier aus!«
Er zuckte mit den Achseln. Auch mit diesem Chef kam er nicht zurecht, und es dauerte kein Jahr mehr, bis Markus die Schuhkischt schließen musste.
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Abgestillt hatte ich – in meine Klamotten von früher passte ich trotzdem nicht mehr. Ich fühlte mich total fett und hüllte mich in Schlabberlook. Wenn ich mir im
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